Maja Lunde gehört für mich zu den aktuell interessantesten Schriftstellerinnen. Wenn ein neuer Roman rauskommt, lese ich ihn. Ihre Stärke ist es, relevante gesellschaftliche Themen zu behandeln, und das mit Plots, die wirklich außergewöhnlich sind. Das ist ihr auch wieder mit dem vorliegenden Roman gelungen. Der Plot ist ein klassischer "Was wäre wenn"-Gedankenspiel. Was würde passieren, wenn die Menschheit plötzlich aus der Zeit fällt? Das Leben geht weiter, ohne dass ein Mensch stirbt, geboren wird oder in irgendeiner Form altert oder Nahrung zu sich nehmen muss. Was macht das Wissen der eigenen Unsterblichkeit mit dem Individuum? Maja Lunde geht dieser Frage nach, indem sie verschiedene Menschen, in verschiedenen Stadien ihres Lebens beobachtet. Da ist die Kleinfamilie von Jenny und Christian mit den beiden kleinen Söhnen, Jenny hat kurz vor dem Ereignis erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist. Bei Jakob und Lisa ist der erste Nachwuchs unterwegs. Otto und Margo haben die Phase lange hinter sich gelassen, haben just am Tag des Wegfalls der Zeit ihr Haus verkauft und sind ins Seniorenwohnheim gezogen. Und schließlich Ellen, Philip und Markus, die das Leben auskosten, ja austesten mit risikoreichen Sportarten und der Liebe. Plötzlich an einem Tag im Frühsommer ist alles anders, Zeit hört auf zu existieren, allerdings nur für die Menschen, die Natur, Flora und Fauna, macht weiter wie seit Millionen von Jahren. Die Euphorie ist zunächst groß, ältere Menschen, Sterbenskranke fassen neuen Lebensmut. Aber die Menschen beginnen auch über den Wert des Lebens nachzudenken. Was ist das Leben an der Seite eines anderen Menschen wert? "Wenn ich alle Zeit der Welt habe", sagt sie, "wenn ich alle Zeit der Welt habe, kann ich sie nicht für dich verwenden." Puh!Als ich den Klappentext las, war ich sofort fasziniert von der Idee und war gespannt, wie Maja Lunde das umsetzt. Das Beobachten der vier beispielhaften Lebensentwürfe fand ich sehr ansprechend, allerdings hätte ich mir einen längeren Zeitraum dabei gewünscht, denn die Menschheit findet nach wenigen Monaten zurück in die Zeit, relativ banal und recht abrupt. Ich hätte mir gewünscht, dass das Gedankenexperiment tiefer geht. Was macht die Menschheit damit, dass plötzlich kein Hunger mehr in der Welt ist, Kriege sinnlos geworden sind? Wie geht es einem Zehnjährigen, gefangen im Körper eines Kindes, aber - sagen wir - mit der Lebenserfahrung eines Vierzigjährigen? Während der Lektüre habe ich unglaublich viel über die Ausgangssituation nachgedacht. Was würde ich tun? Und vielleicht ist genau das die große Stärke des Romans. Er lässt Raum. Und macht das nicht gute Literatur aus? Dass die Leserinnen und Leser genug Platz haben, um eigene Ideen und Gedanken zu entwickeln? Ich finde ja, deshalb spreche ich eine Leseempfehlung aus.