Everybody: Warum unser Körper politisch ist von Olivia Laing ist ein gleichermaßen interessantes wie anspruchsvolles Sachbuch über die Zusammenhänge von Gesellschaft, Körperpolitik und Geschichte.
Die Autorin berichtet detailliert über den langen Kampf um körperliche Freiheit, von der Geschichte des Feminismus, der sexuellen Befreiung, LGBTQ-Bewegungen, der Bürgerrechtsbewegung und vielem mehr.
"Bei allen Kämpfen des vergangenen Jahrhunderts, vom Feminismus über die Emanzipation der Homosxuellen bis zur Bürgerrechtsbewegung, ging es im Grunde um das Recht, nicht unterdrückt zu werden, nur weil man eine bestimmte Art von Körper bewohnt: zu leben, wo man möchte, zu arbeiten, wo man möchte, zu essen, wo man möchte, zu gehen, wohin man möchte, ohne das Risiko, attackiert oder getötet zu werden; eine Abtreibung vornehmen zu lassen, sich in der Öffentlichkeit zu küssen, einvernehmlichen Sx zu haben ohne die Angst, im Gefängnis zu landen. Die errungenen Siege waren hart erkämpft, aber nicht für die Ewigkeit gesichert, und nun droht der Rückfall in unüberwunden geglaubte Verhältnisse."
In ihren Recherchen befasst sich die Autorin mit Wilhelm Reich und seinen Theorien (das nahm für meinen Geschmack etwas zu viel Raum in Anspruch), außerdem geht sie auf weitere eindrucksvolle Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts ein wie z.B. James Baldwin, Nina Simone, Sigmund Freud, Susan Sontag und Malcolm X. Die historischen Zusammenhänge fand ich sehr interessant, teilweise etwas zu ausschweifend.
Das Augenmerk der Autorin liegt besonders bei Frage nach der Freiheit des Körpers sowie die Rechte bzw. Einschränkungen der einzelnen Körper.
"Doch meine Kindheit hat mich nicht nur gelehrt, dass der Körper ein Objekt ist, dessen Freiheit durch die Außenwelt beschränkt wird, sie hat mir auch gezeigt, dass der Körper selbst ein Mittel zur Freiheit sein kann."
"Wenn über Körper gesprochen wird, besonders in der Populärjultur, ist das Themenspektrum in der Regel eng begrenzt und es geht zumeist um das Erscheinungsbild oder die Gesunderhaltung des Körpers. Der Körper als eine Ansammlung von Oberflächen von mehr oder minder ansprechendem Aussehen. Der perfekte, unerreichbare Körper, so glatt und glänzend, praktisch nicht von dieser Welt. Womit man ihn füttert, wie man ihn pflegt und die ständige Angst, dass er womöglich abweichend oder ungenügend ist. Mich hingegen interessiert in erster Linie die Erfahrung, in ihm zu leben, etwas zu bewohnen, das so katastrophal verletzlich war, so hilf- und wehrlos Lust und Schmerz, Hass und Begehren ausgesetzt."
"Wir alle sind in unserem Körper gefangen, will sagen in einem Raster widersprüchlicher Auffassungen zu der Frage, was dieser Körper bedeutet, wozu er fähig ist und was er tun und lassen darf. Wir sind nicht bloß Individuen, hungrig und sterblich, sondern repräsentieren Typen und sehen uns Erwartungen, Ansprüchen, Forderungen, Verboten und Strafen ausgesetzt, die stark variieren können, je nachdem, welche Art von Körper wir bewohnen. Freiheit bedeutet nicht nur, wie der Sade hemmungslos seinen materiellen Gelüsten zu frönen. Sie bedeutet auch, sein Leben führen zu können, ohne gehemmt, behindert, beschädigt oder kaputt gemacht zu werden, sprich ohne fortwährend eingetrichtert zu bekommen, was der eigenen Körperkategorie erlaubt ist und was nicht."
Obwohl ich das Buch thematisch sehr interessant fand, bin ich anhand des Klappentextes offenbar mit etwas anderen Erwartungen an dieses Buch herangegangen. Diese wurden also nicht alle erfüllt; dennoch kann ich dieses Buch weiterempfehlen, da es einigen Stoff zum Nachdenken sowie viele kluge Gedanken bietet.
Es ist weniger ein reines Sachbuch, sondern auch teilweise Memoir, da man einiges über das Leben der Autorin erfährt, die mir bisher noch völlig unbekannt war.
"Und doch ist der Traum vom freien Körper keineswegs vergangen. Er liegt in der Luft."
"Ein freier Körper muss nicht heil oder unbeschädigt oder naturbelassen sein. Er verändert sich ständig, immerzu, in einem fort, er ist schließlich eine fluide Form. Stellen Sie sich einen Moment lang vor, wie es wäre, einen Körper zu bewohnen ohne Angst, ohne Angst haben zu müssen. Stellen Sie sich vor, wozu wir in der Lage wären. Was wir für eine Welt erbauen könnten."