
Zu den Vorzugslandschaften des großen Wanderers Robert Walser gehören unbedingt die Wälder. Sie stammen aus der schweizerischen Heimat gleichermaßen wie aus Lektüre, romantischer zumal: Tiecks Waldeinsamkeit und Eichendorffs Selbstvergessenheit schwingen durch Berg- oder Gemeindewälder. Walsers Waldtexte inszenieren Orte des sanften Verschwindens, der wohligen Ruhe und des Stillstands der Zeit. In ihnen begegnet man erotischen Waldfrauen, Reisenden und Räubern, Unheimlichem, Niemandem - oder sich selbst. Auf Irr-, Um- und Abwegen führen sie zu bunten Waldfesten oder lohenden Waldbränden, aber auch zu Lichtungen, auf denen Wirtshausschilder Waldgänger zur Einkehr laden.
Diese Anthologie versammelt in chronologischer Folge Prosaskizzen und Gedichte von den frühen Texten um 1900 bis in die späte Zeit der Berner Mikrogramme.
Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 06.12.2025
Zum Versinken verlockt
Wenn es prägende Motive im Werk von Schriftstellern gibt, so ist es bei Robert Walser fraglos der Schnee. Von früh an war er seinem Zauber erlegen, in etlichen Schnee- und Wintergedichten wie auch in kurzen Prosastücken hat er diesem Zauber nachgespürt, in keinem aber eine solche Sprach- und Lautmagie entfaltet wie in diesem frühen Gedicht. Im Juni 1900 war es in der Zeitschrift "Die Insel" erschienen, die mehrfach Gedichte des jungen, immer wieder die Stellungen wechselnden Commis abdruckte.
Da sind zum einen die beschwörenden Wiederholungen, in denen das unablässige Schneien die Zeit zum Raum, ins Weite zu dehnen scheint, unterstützt vom dominierenden Diphthong "ei". Ein weicher Laut, dem Anheimelnden, zum Versinken Verlockenden einer Schneelandschaft wie abgelauscht und zugleich ihr Bild förmlich aus diesem Laut erzeugend. (Im Manuskript hatte das Gedicht noch den Titel "Schneien" getragen.) Aber da ist auch das zweifache "e" des Schnees, auch er zweifach beschworen im 4. Vers, der sich hier reimt auf "Weh", wiederkehrend am Ende im gedehnten "e" von "Sehnen" und, umlautend, in "Tränen".
Anders indes, ohne solch onomatopoetisch-sehnende Dehnung, wirkt der "e"-Laut am Beginn, wenn auf "Erde" sich "Beschwerde" reimt und dies dem hier altertümlich gebrauchten Wort, das für die sich bildende Schneedecke steht, etwas Schwebendes verleiht. Sein Wortstamm ist die physische Schwere, von der es sich in die mentalen Bedeutungen von Bürde, Beschwernis, Schmerz, Klage und Anklage überträgt. Dieser mehrdeutigen Schwere wirkt zugleich der subtile rhythmische Wechsel von Jamben und daktylisch schwingendem Enjambement entgegen, worin die Versglieder wie magisch angezogen sich strecken und einander im Binnenreim umarmen. Anders als im ersten, 1909 erschienenen Gedichtband war das Gedicht im "Insel"-Abdruck noch in vier vierzeilige Strophen gegliedert, so dass die umarmenden Reime in ihrer getrennten Abfolge (a-b-b-a) sichtbar blieben. Mit der später erfolgten zweizeiligen Anordnung werden sie zu Binnenreimen gefügt und erhöhen so auch optisch-sinnfällig ihre innige Verknüpfung.
Nur ahnungsweise taucht am Bedeutungshorizont von "Beschwerde" und "Weh" das poetische Subjekt in den beiden ersten Strophen auf, bevor es in der dritten Strophe sich offen in seiner Betroffenheit zeigt und im "ach" auch lautlich eine Brechung erzeugt. Noch spricht das Subjekt im Du sich objektivierend an, um aber sogleich dem Sog von "Ruh" - ein kurzer lautlicher Ruhepunkt -, dem Weiß und der Weite der Schneewelt sich zu ergeben, widerstandlos, "schwach". Innerlich geweitet und gleichzeitig wie von seiner poetischen Schutzhülle entblößt, setzt ein buchstäblich "groß" zum Substantiv emanzipiertes "Sehnen" sich an seine Stelle, "drängt sich zu Tränen", aufgefangen im Inneren des in diesem Sehnen aufgehenden Ichs.
Tränen des "Wehs"? Oder auch solche der Schmerzlust, jener romantischen Empfindung der Wehmut, als Quelle von Poesie? Dies wohl zum einen. Dem entspricht, dass Walser später einmal in dem kurzen Prosatext "Die Sonate" eine Art künstlerisches Manifest wie ein verkapptes Selbstporträt entwarf, in dem er alle Skalen der Empfindungen in ihrer gegensätzlichen Verknüpfung wie Schmerz und Freude, Lust und Weh als wesentlich für das imaginierte Werk beschreibt. Zugleich aber zeichnet gerade Walsers frühe Gedichte immer auch ein Bruch mit der Tradition und Konvention aus, die der Heine-, Keller- und Hofmannsthal-Verehrer manchmal ins Lakonische, Ironische, Schroffe, Ungefüge wie auch ins Heitere, Märchenhafte und Kindliche überspielt.
Bleibt, dass das dichtende Subjekt, das in diesem frühen Schneegedicht sich nur zögernd, "taumelnd" wie die Flocken, in die Schneewelt projiziert, dies doch nicht ohne einen sehnsüchtigen Lustschmerz vollbringen kann, und sei es nur, um dieses Schnee-Weh in seinen Reimen auszukosten. In einem seiner späten Schneegedichte mit der Anfangszeile "Der Schnee fällt nicht hinauf", das Ende der Zwanzigerjahre wenige Jahre vor seiner Internierung in der Heilanstalt entstand, wird der Dichter die Projektion des eigenen Ichs ins Bild des Schnees, dessen "hinab" weisendes und leises Wesen er hier besingt, an seine Grenze treiben. "Glichest doch du ihm nur", so ergeht sein Ausruf in der Mitte des Gedichts. Im Bild, den Eigenheiten des Schnees, dessen frühe "Beschwerde" er hier in ein gelassenes "Sichhinunterneigen" wandelt, scheint der Dichter sein eigenes Wesen zwar unvollkommen, aber idealisch gespiegelt zu sehen.
"Das Stillsein ist sein Glück" lautet die letzte Zeile dieses späten Gedichts. Wenige Jahre danach ist die Dichterstimme verstummt. Auf langen, meist einsamen Spaziergängen, die Walser von seiner Heilanstalt aus unternahm und die sein Gönner, Freund und Vormund Carl Seelig bei seinen gelegentlichen Besuchen protokollierte, hat er die Stille, die Natur, das Sosein der Dinge und immer wieder den Schnee gesucht. In ihm fand er den Tod.
Robert Walser: "Die Gedichte". Hrsg. von Jochen Greven. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 329 S., br., 14,- Euro.
Von Marleen Stoessel ist zuletzt erschienen: "An der Grenze des Lichts. Erzählung aus der Zeit der Schatten. I: Das Erwachen. II: Die große Terz". Mit einem Nachwort von Gernot Krämer. Golden Luft Verlag, Mainz 2025. 80 S., br.
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