REZENSION - Die spanische Schriftstellerin und Lyrikerin Sara Mesa (49) zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen ihres Landes, deren Romane und Erzählungen prämiert und vielfach übersetzt wurden. So wurde ihr Roman "Eine Liebe" (2018) in Spanien zum besten Buch des Jahres gekürt und 2021 mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet. Weniger bekannt ist sie dagegen noch in Deutschland. Doch sollte sich dies bald ändern, nicht zuletzt nach Erscheinen ihres im Februar beim Verlag Klaus Wagenbach auf Deutsch veröffentlichten, beklemmenden Episodenromans "Die Familie", der bereits 2022 über Wochen auf der spanischen Bestsellerliste stand. Darin schildert die Autorin das Alltagsleben eines konservativen Familienhaushalts und zeigt, wie die Erziehung einen Menschen nachhaltig prägen kann.Nach außen hin ist es eine ganz gewöhnliche Familie mit Vater Damián, Mutter Laura, den beiden Söhnen Damián und Aqulilino, der Tochter Rosa und der adoptierten Nichte Martina. Vater Damián erscheint uns als sozial engagierter Anwalt. Er hält nichts von Religion, ist stattdessen ein Anhänger der humanistischen Lehren Gandhis. Er führt seine Familie als "vorbildlicher" Patriarch alter Schule streng, aber ohne jede körperliche Gewalt. Er erzieht seine Kinder zu Disziplin und Ordnung, Bescheidenheit und Sparsamkeit, Rücksichtnahme und vor allem zu lückenloser Offenheit. Diese "Hausgesetze" gelten auch für seine Frau, die sich dem Ehemann und Familienpatriarch in klassischem Rollenverständnis unterordnet und ihn in seiner Erziehungsmethodik unterstützt.Individuelle Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder werden ebenso missbilligt wie Geheimniskrämerei. Innerhalb der Familie darf es keine Geheimnisse und keine Privatsphäre geben. Rückzüge in die Kinderzimmer sind deshalb verboten. Alle haben sich im Wohnzimmer am Tisch der Familie zu versammeln, sollen sich dort gemeinsam unterhalten, ihre Hausaufgaben erledigen, ihren Hobbies nachgehen oder lesen. Welche Literatur allerdings gelesen werden darf, bestimmt allein der Vater im Sinne einer guten Erziehung. Folge dieser Erziehungsmethode ist zwangsläufig, dass die Kinder - je nach individuellem Charakter und zunehmendem Alter - lernen, sich vor den Eltern zu verstellen, ihnen etwas vorzumachen, sie wo nötig sogar anzulügen und auszutricksen, um sich mit allen Mitteln der elterlichen Kontrolle durch stille Rebellion oder innere Flucht zu entziehen.Autorin Sara Mesa schafft es auf interessante Weise, mittels einzelner Episoden und jeweils wechselnden Protagonisten die Entwicklung eines jeden Familienmitglieds in dieser patriarchalisch geprägten Gemeinschaft vom Kind zum Erwachsenen aufzuzeigen und aus diesen fragmentarischen Szenen ein Mosaik zusammenzustellen, das uns Leser bald statt der vermeintlich "heilen" eine in Wahrheit brüchige, wenn nicht letztlich sogar zerrüttete Familie erkennen lässt. Dabei ist es vor allem dieser nüchterne Erzählstil Mesas über die anhaltende Wirkung familiärer Zwänge - ohne jeglichen Pathos oder Melodramatik -, der gerade wegen seiner emotionalen Distanziertheit uns zu wachsendem Mitgefühl zwingt. Man spürt förmlich von Seite zu Seite die alles durchdringende Gefühlskälte innerhalb dieser Familie.Anhand der unterschiedlichen Charaktere zeigt Mesas lesenswerter Roman auf beklemmende Weise, wie diese Art der Erziehung, auch wenn sie vom Vater wohlgemeint und absolut gewaltlos ist, dennoch unterschwellig, aber tiefgreifend wirken und für das spätere Leben langanhaltende psychologische Folgen haben kann. "Die Familie" ist wahrlich kein unterhaltsamer, sondern in seiner ernsthaften Thematik ein recht anspruchsvoller, nachhaltig wirkender Roman, zu dessen Lektüre man bereit sein muss. Es empfiehlt sich deshalb, das Buch ohne längere Unterbrechungen zu lesen, um die in seinen Episoden allmählich aufbauende Dramatik besser erfahren und das trotz nüchterner Erzählweise langsam aufkommende Mitgefühl mit den durch falsche Erziehung in gewissem Maß lebensuntüchtigen und leidenden Protagonisten besser spüren zu können.