Besprechung vom 03.07.2025
Legosteine und Puzzleteile
Siân Hughes erzählt vom Verschwinden einer Mutter
Eigentlich wird auf den ersten Seiten schon alles verraten: der schuhschachtelgroße Gedenkstein, der lediglich ein Datum trägt, Geburts- und Sterbedatum zugleich, der Riss im Leben der Mutter, der sich fortpflanzt zum Riss im Leben der Tochter, ein Riss, der die eine sich ritzen lässt, bis sie eine junge Frau ist und länger, und der die andere früh in den Tod treibt. Nur den Clou des Ganzen, dass Trauer über den Tod eines Kindes irgendwann von Glück überwölbt werden und gerade darum eine umso tödlichere Wirkung entfalten kann, den erfährt man erst spät.
Aber wenn auch gleich am Anfang von Siân Hughes "Perlen" alles angelegt ist, so braucht es doch eine Weile, bis man die Puzzleteile zusammengefügt hat. So macht man als Leser einen ähnlichen Erkenntnisprozess durch wie die Erzählerin dieses kleinen kunstvollen Romans.
"Perlen" spielt nicht in London, sondern tief in der Provinz, in einem Dorf in der Grafschaft Cheshire und der nächstgelegenen Universitätsstadt. Man meint die Atmosphäre dieses ländlichen Englands gleich wiederzuerkennen aus Romanen, die ebenfalls von einem Schleier der Trauer überzogen sind, J. L. Carrs "Ein Monat auf dem Land" von 1980 etwa oder Daisy Hildyards im letzten Jahr auf Deutsch erschienener Roman "Notstand".
Fast ist es, als würde die Trauer die Figuren der Zeit entrücken. Ja, es gibt bei Siân Hughes Handys und Internet, aber genauso könnte "Perlen" in den Zwanziger- oder Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts spielen. Die Handlung ist zudem tief eingebettet in die Landschaft Nordenglands. Ohne dass hier klassisches englisches Nature Writing betrieben würde, meint man, den Regen zu hören und den schweren Schlamm an den Schuhen zu spüren. Wobei auch Nature-Writing-Klassiker wie etwa J. A. Bakers "Wanderfalke" (1967) häufig von einem Gefühl des Verlusts grundiert sind.
Siân Hughes, geboren 1965, gelang mit "Perlen", ihrem Prosadebüt, ein Überraschungserfolg samt Booker-Preis-Nominierung. Zuvor hatte die Autorin mehrere Gedichtbände vorgelegt, und man ist geneigt, ihr Gespür für Rhythmus und Komposition, das auch in der Übersetzung von Tanja Handels unverkennbar ist, auf ihr lyrisches Talent zurückzuführen. Zudem ist jedem der 21 Kapitel des Romans ein Kinderlied oder ein Abzählreim vorangestellt. Glücklicherweise wurden diese Verse, die meist etwas abgründig Makabres an sich haben, im Original belassen: "Here comes a candle / To light you to bed / And here comes a chopper / To chop off your head."
Lieder durchziehen auch das Leben der Erzählerin Marianne, die als Achtjährige ihre Mutter verliert. Was mit der Mutter, die vom einen auf den anderen Moment verschwindet, geschehen ist, kann die Polizei nicht klären. Auch für Marianne ist dieses Verschwinden lange ein Rätsel, und mehr noch, eine Wunde, die nicht verheilen will. Eng war sie mit ihr verbunden, wurde von ihr großgezogen und zu Hause unterrichtet und in ein Netz aus Liedern und Geschichten eingesponnen.
Der Vater tut alles, um nach dem Verschwinden seiner Frau der Tochter und ihrem kleinen Bruder Stabilität und Wärme zu geben, aber das Trauma des plötzlichen Verlusts bleibt bestehen, auch nachdem die Restfamilie aus dem Haus auf dem Land in die Stadt umgezogen ist: "Schnell stellten wir fest, dass uns vieles, was uns am Leben im alten Haus so deprimiert hatte, in das neue gefolgt war. Die Dinge bedrängten uns in ihrer Dinghaftigkeit. Taschen mit den Schwimmsachen der Woche zuvor, die unter den Garderobenhaken zu stinken anfingen. Verlorene Briefe aus der Schule. Verschwundene Brettspielfiguren, scheußliches Gratisspielzeug in Plastikpackungen, die ungeöffneten Schreiben, die auf der Anrichte lagen, zwischen irgendwelchen halb fertig gemalten Bildern und alten Einkaufszetteln, die wir natürlich vergessen hatten, als wir zum Einkaufen aufbrachen, Legosteine, Schulhemden, an denen ein Knopf fehlte, vertrocknete Pflanzen, einarmige Kleiderbügel, Tütchen mit Samen, die wir niemals aussäen würden, und Plastikbecher mit Erde darin, in die Joe in der Schule etwas gepflanzt hatte, was wir dann zu gießen vergaßen."
Marianne wird zu einem schwierigen Teenager, wird magersüchtig, schwänzt die Schule, nimmt Drogen und kehrt immer wieder zurück zu dem Haus auf dem Land, in dem sie aufwuchs, bevor die Mutter daraus verschwand. Dieses Haus wird im Laufe des Romans zu einem mythischen Ort, an dem die Treppenstufen von Geistern bevölkert sind und Krähen durch das undichte Dach eindringen; eine Ruine, die zu einer Art verwittertem Grabmal der Mutter wird.
Dass bereits im Romantitel "Perlen", der sich auf ein altenglisches Gedicht bezieht, die Lösung für das Geheimnis um das Verschwinden von Mariannes Mutter angelegt ist, sei noch verraten. Wobei in diesem leisen und doch eindringlichen Prosawerk deutlich wird, dass es nicht Antworten, sondern Fragen sind, die ein Leben bestimmen. TOBIAS LEHMKUHL
Siân Hughes: "Perlen".
Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. DuMont Buchverlag, Köln 2025.
272 S., geb.
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