
Die Geschichte der Pop- und Rockmusik steckt voller Missverständnisse
Regnet es tatsächlich nie in Kalifornien? Taugt Peter Schillings »Major Tom« wirklich als Torhymne? Und heißt es in Bob Dylans Klassiker »Blowin in the Wind« vielleicht doch: »The ants are my friends« »Die Ameisen sind meine Freunde«? Mit Verve führt Michael Behrendt durch die wundersame Welt der missverstandenen Songs vom harmlos-unabsichtlichen Auf-der-Leitung-Stehen bis hin zur gezielten Songmisshandlung. Verhört, verkannt, vereinnahmt eine Compilation zum Schmunzeln, Gruseln und Entdecken.
Besprechung vom 29.11.2025
Punk am Ballermann
Von The Cure über EMF bis zu David Hasselhoff: Michael Behrendt führt kundig durch die Welt missverstandener Songs.
Von Kai Spanke
Worum geht's eigentlich in dem BAP-Song "Verdammp lang her"? Viele Leute, die vor 1990 in Deutschland geboren wurden, dürften in der Lage sein, dessen Refrain einigermaßen melodiesicher zum Besten zu geben. Wer Kölsch beherrscht, wird auch ungefähr wissen, wovon Wolfgang Niedecken singt. Alle anderen haben es schwer. Zwar klingt das Ganze nach einer Nostalgie-Hymne der Sorte "Mensch, was war das super damals", aber verlassen kann man sich auf solche Gefühlshermeneutik nicht. Vor neun Jahren sagte Niedecken in einem Interview dazu: "Ich war in ein winziges Kaff in Franken geflüchtet, wo ich am Rosenmontag Ruhe fand, ein Lied über meinen im Vorjahr verstorbenen Vater zu schreiben." Das ist für diejenigen, die das Stück bisher als Party-Banger verbucht hatten, natürlich ernüchternd. Und es zeigt, wie nebensächlich Strophen sein können, wenn sich Musik und Refrain tief genug ins Ohr fräsen. Siehe auch "Born in the U.S.A." von Bruce Springsteen, ein Hit der bis heute als Bekenntnis eines Mannes verstanden wird, für den Patriotismus Staatsräson ist. Aber, aber. Michael Behrendt schreibt in seinem Buch "Verhört, verkannt, vereinnahmt": "Besungen wird vielmehr ein Land, das sozial Schwache und andere Außenseiter einerseits zum Töten in die Fremde schickt, andererseits als Kanonenfutter verheizt und die überlebenden Kriegsveteranen gnadenlos im Stich lässt." Ronald Reagan hatte da irgendwas nicht richtig mitgekriegt, wollte das Lied 1984 als Wahlkampfsoundtrack einsetzen, fragte bei Springsteen an - und bekam einen Korb.
In Behrendts Buch geht es um "99œ missverstandene Songs"; es handelt sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung des 2017 erschienenen Titels "I Don't Like Mondays - Die 66 größten Songmissverständnisse". Man müsste bei 99œ nicht einmal haltmachen. 111 missverstandene Songs? Kein Problem. Gibt man sich Mühe, wären auch 222 Lieder drin. Hier zeigt sich, was dieses und jedes andere Werk ähnlichen Zuschnitts letztlich ist - ein beliebig erweiterbarer Baukasten.
Alles aber kein Grund zur Beschwerde, denn Behrendts Anspruch kann und wird nicht sein, Leser zu finden, die seine Sammlung von vorne bis hinten durcharbeiten. Die kurzen Essays animieren zum Stöbern und Nachhören, und so findet sich ein QR-Code im Buch, der auf die Verlagsseite führt, von wo aus man sich zu Spotify weiterklickt. Dort wartet eine sechseinhalb Stunden lange Playlist, die mit Udo Jürgens' "Griechischer Wein" einsetzt und mit Madonnas "Like a Virgin" endet.
Die Spanne ist, wie wir sehen, weit. Songs aus den Vierzigern (etwa "Tulipan" vom Trio Lescano) tauchen in der Auswahl genauso auf wie Lieder aus den vergangenen fünfzehn Jahren (Adeles "Someone Like You"), Klassiker (Leonard Cohens "Hallelujah") ebenso wie Murks ("Tage wie diese" von den Toten Hosen), und auch die Genres sind gut gemischt - ob Metal, Pop, Punk oder Country, Behrendt lässt anhand der Zusammenstellung keine besonderen Vorlieben durchblicken.
Wer die Playlist chronologisch abspielt, steigt womöglich nach einigen Stücken wieder aus, denn Westernhagen folgt auf The Cure, David Hasselhoff auf Pink Floyd, Judas Priest auf Maroon 5. Die Reihenfolge aus dem Buch bleibt erhalten, und dort ergibt sie auch Sinn, da alle Lieder verschiedenen Rubriken zugeordnet sind. Angehört hält man diesen Cocktail allerdings nur schwer aus, weil man nicht in Stimmung kommt. Und es trifft sich, dass uns die Wurzel des Worts an die "Stimme" und das Verb "stimmen" erinnert: Lieder wirken zuerst oft atmosphärisch, wobei die Lyrics fast zur Nebensache werden und Missverständnisse also nicht verwundern sollten.
Aber was genau ist bei EMF nun so "Unbelievable"? Wenn Meat Loaf versichert, er tue alles für die Liebe außer "that" - was soll "that" sein? Wie kommt es, dass der Ärzte-Hit "Männer sind Schweine" zum Evergreen und Ballermann-Knaller wurde, obwohl am Ende ein Backgroundchor einige Zeilen intoniert, mit denen sich eine andere Punk-Band Jahre vorher mehrere Ermittlungsverfahren eingehandelt hat? Behrendt gibt Antworten und erweist sich als guter Anwalt der Songs, deren Auftrag an ihn hätte lauten können: "Don't Let Me Be Misunderstood".
Michael Behrendt: "Verhört, verkannt, vereinnahmt". 99œ missverstandene Songs.
Reclam Verlag, Ditzingen 2025. 282 S., br.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Verhört, verkannt, vereinnahmt. 99 missverstandene Songs" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.