REZENSION zu "Die Suche nach Zuhause" von Marie-Luise Ritter (@luiseliebt), erschienen im Piper Verlag
Inhalt (spoilerfrei): In "Die Suche nach Zuhause" begleitet man Marie-Luise Ritter auf einer sehr persönlichen Reise: Es geht um die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, um die Frage, was Zuhause eigentlich bedeutet, und wie es sich in verschiedenen Lebensphasen verändert. Luise erzählt von Umzügen, vom Ankommen in Paris, von Orten, die Heimat werden und Heimat bleiben, und von dem Gefühl, sich manchmal fremd zu fühlen, selbst da, wo man schon lange lebt. Eingestreut sind dabei viele kleine Anekdoten, gut recherchierte Fakten, historische Hintergründe zu Städten wie Paris, Architekturdetails und spannende Studien. Das macht das Buch nicht nur intim und introspektiv, sondern auch informativ und gesellschaftlich relevant.
Erzählstil & Struktur: Luises Sprache ist wie eine warme Decke: introspektiv, poetisch, bildhaft und gleichzeitig präzise. Jeder Satz wirkt wohlüberlegt, voller Metaphern, oft so treffend, dass man ihn sofort unterstreichen möchte. Das Buch liest sich fließend, gleichzeitig verlangt es ein bewusst langsames Lesen, um die Gedanken nachklingen zu lassen. Häufig habe ich das Gefühl, direkt in ihren Kopf zu schauen. Ihre Texte sind so authentisch und nahbar, dass sie wirken, als spräche eine enge Freundin ihre innersten Gedanken aus. Besonders eindrucksvoll ist die intertextuelle Struktur: Sie verwebt Zitate aus anderen Büchern, wissenschaftliche Studien und persönliche Beobachtungen miteinander, wodurch ein Netz entsteht, das dem Thema Zuhause Tiefe und intensiv recherchierte Vielschichtigkeit verleiht.
Figuren/Charaktere: Auch wenn es ein autobiografisches Werk ist, wirken die Menschen, von denen Luise erzählt, fast wie literarische Figuren. Vor allem aber steht sie selbst im Mittelpunkt und dabei introspektiv, offen, schonungslos ehrlich. Sie erzählt von eigenen Entscheidungen, auch von Fehlentscheidungen, ohne Scham, sondern mit einer natürlich menschlichen Fehlbarkeit. Auch ihr Umfeld (Freund:innen, Begegnungen in Paris, Gespräche) fließen ein und verdichten das Buch zu einem komplexen Mosaik aus persönlichen und kollektiven Erfahrungen.
Themen und Symbole: Am stärksten behandelt wird natürlich die Suche nach Heimat. Dabei behandelt Luise aber auch ganz eindringlich damit einhergehende Themen, wie Ausgrenzungserfahrungen, Freundschaft und Selbstfindung, aber auch Kapitalismuskritik (etwa in Bezug auf Wohnungspreise). Besonders intensiv befasst sie sich mit ihrem Gefühl der Zugehörigkeit und um Diskriminierung, wenn man sich immer wieder beweisen muss, wirklich von hier zu sein. Dieser Einblick hat ganz deutlich gezeigt, wie sehr Ausgrenzung Menschen prägen kann. Besonders stark fand ich persönlich aber auch das Thema Alkohol. Anfangs wirkt es so, als sei er ein überpräsentes Motiv, das zu sehr normalisiert wird. Doch im Verlauf zeigt sich, dass dies von Luise bewusst eingesetzt wird. Sie beschreibt Alkohol als feine Trennlinie zwischen dem Ich und dem Außen. Mit jedem Glas entfernt sich Luise ein Stück mehr von ihrem inneren Zuhause, während das Außen lauter, das Innere leiser wird. Am Ende reflektiert sie eindringlich die gesellschaftliche Normalisierung von Alkohol; dass man gedrängt wird, mitzutrinken, um nicht spießig zu wirken; dass Abstinenz kritischer beäugt wird als Konsum. Für mich ist das ein starkes Symbol für die Entfremdung vom eigenen Körper, der zugleich das eigentliche Zuhause ist. Was mir außerdem aufgefallen ist, ist dass Luise manchmal das generische Maskulinum und manchmal das generische Femininum verwendet. Das hat mich zunächst etwas irritiert, da man das nicht kennt (allgemein geläufig ist ja das generische Maskulinum), aber es hat mich stark zum Nachdenken angeregt: warum einem das eine auffällt, das andere nicht. Sprache kann so auch zum Spiegel unserer Vorstellungen von Zugehörigkeit werden.
Fazit: "Die Suche nach Zuhause" ist introspektiv, mutig und unglaublich inspirierend. Marie-Luise Ritter schafft es, persönliche Erfahrungen, gesellschaftliche Reflexionen und literarische Sprache genial zu verweben, ohne den Lesefluss zu behindern, belehrend oder jemals gekünstelt zu klingen. Für mich bleibt die Erkenntnis: Zuhause ist nicht nur ein Ort, sondern auch der eigene Körper, das eigene Ich und es lohnt sich, immer wieder neu zu fragen, wo und wie man leben möchte, um wirklich anzukommen. Inspirierend fand ich auch die Passagen, in denen Luise davon erzählt, nicht aufzugeben, wenn andere einem raten, sich mit weniger zufrieden zu geben; sei es bei einer Wohnung oder in Beziehungen. Stattdessen plädiert sie dafür, Geduld zu haben, den eigenen Wünschen treu zu bleiben und weiterzusuchen, bis man das findet, was einen wirklich glücklich macht.
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