Besprechung vom 14.06.2018
Diesen Tiger stiehlt keiner
Judith Kerr schildert in "Geschöpfe" ihre Flucht nach London, den Beginn ihrer Karriere als Künstlerin und was ihre Küche mit dem Leid japanischer Kriegsgefangener zu tun hat.
Die Frage, was von 1968 bleibt, wird meist unter politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen gestellt. Dabei dürfte kaum etwas so viele Menschen so nachhaltig erreicht haben wie ein Bilderbuch, das im Oktober jenes Jahres in England erschienen ist - "The Tiger Who Came to Tea" wurde seither mehr als eine Million Mal verkauft und ist eines der beliebtesten englischen Kinderbücher aller Zeiten.
Entstanden ist es offenbar aus Langeweile: Judith Kneale, geborene Kerr, und ihre kleine Tochter Tacy verbrachten viel Zeit zu zweit, weil der BBC-Autor Tom Kneale, Tacys Vater, wenig zu Hause war. Mutter und Tochter gingen in den Zoo, und weil Tacy so gern Tiergeschichten hörte, dachte sich ihre Mutter aus, wie endlich Schwung in den langweiligen Alltag kommen könnte: durch einen riesigen Tiger, der unvermutet vor der Tür steht, in die Küche schleicht, den Kühlschrank bis auf den letzten Krümel plündert und dann die Wasserleitung leer trinkt. Sind Mutter und Tochter erleichtert, als das riesige Tier dann verschwunden ist? Keine Spur, schließlich ist damit auch das Abenteuer vorbei. Denn der Tiger, so endet dieses Buch, kommt nicht mehr zurück.
Die Frau, die sich diese Geschichte ausgedacht und mit eigenen Zeichnungen versehen hatte, die damit eine Ikone der Kinderliteratur schuf und in Gestalt ihrer Serie um "Mog, the Forgetful Cat" noch eine weitere, war gut dreißig Jahre zuvor ins Land gekommen, als Tochter des legendären deutschen Theaterkritikers Alfred Kerr. Die Stationen dieser Flucht hat Judith Kerr in drei Romanen geschildert - "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", "Warten, bis der Frieden kommt" und "Eine Art Familientreffen" -, sie erzählen von der Schweiz, Frankreich und England, von dem Bemühen der Protagonistin Anna, sich als Zeichnerin zu beweisen, und am Rande auch von den Schwierigkeiten der Eltern, vor allem des Vaters, im britischen Exil Fuß zu fassen. Der letzte Roman schließlich endet mit der Rückreise Annas von einem Aufenthalt im zerstörten Nachkriegsberlin nach London und mit der plötzlichen Erkenntnis, das sie schwanger ist. Ihr Kind wird sie in England zur Welt bringen, die Frage nach der Heimat ist entschieden.
Die Trilogie, schreibt Kerr in ihrer reich bebilderten Autobiographie "Creatures", die nun zum heutigen 95. Geburtstag der Autorin ins Deutsche übersetzt worden ist, sei Fiktion in dem Sinne, dass die Romane "Schwerpunkte setzen. Einige Ereignisse sind dramatisiert, andere abgeschwächt." Zudem sei die Geschichte aus Annas Perspektive erzählt - was die anfangs Neunjährige nicht mitbekommt, findet keinen Eingang in den Text, der daher das Abenteuer mehr betont, als er die eigentliche Gefahr durchblicken lässt. Entscheidend aber für den neuen biographischen Ansatz in "Creatures" ist etwas anderes: "Es gibt aber auch Begebenheiten im Leben meiner Eltern, die ich zu der Zeit, als ich die Bücher schrieb, nicht kannte, sondern die erst nach und nach ans Licht kamen."
"Creatures" ist zwar keine Revision der Romantrilogie, wohl aber eine hochinteressante Ergänzung. Judith Kerr, die, wie sie schreibt, noch siebzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters imaginäre Gespräche mit ihm führt, bemüht sich um Gerechtigkeit ihm und seinen Bemühungen gegenüber, die Familie mit literarischen Arbeiten zu unterstützen, obwohl er immer wieder die Erfahrung macht, die Flüchtlingen nur zu vertraut ist: In der Fremde ist auch die souveräne Beherrschung der Muttersprache nicht mehr allzu viel wert.
Judith Kerr konzentriert sich in ihrer Autobiographie weitgehend auf das Leben in England, den eigenen künstlerischen Werdegang, die Ehe mit Tom Kneale und die Entstehung ihrer literarischen Texte. Sie erzählt knapp, konzentriert, erzählt von der Katastrophe des Kriegs und von den Strategien derer, die von ihm betroffen sind. Manchmal ist da ein Hauch von Bitternis, etwa wenn sie über die Schweizer Politik der dreißiger Jahre schreibt und feststellt, dass die offizielle Neutralität mit dem Bemühen einhergeht, Hitler nicht zu verärgern.
Und immer wieder finden sich ausgesprochen witzige Miniaturen, wenn sie etwa von einer Wohngemeinschaft berichtet, in der sie nach dem Krieg mit ihrem Bruder Michael und dessen Freund Ronnie lebte. Sie selbst zahlte eine etwas reduzierte Miete und kümmerte sich, so die Verabredung, im Gegenzug ums kochen, ohne allerdings Kochen zu können: "Michael wusste vielleicht, worauf er sich gefasst machen musste, aber rückblickend finde ich, dass Ronnie, der vier Jahre in einem japanischen Kriegsgefangenenlager verbracht hatte, etwas Besseres verdient gehabt hätte."
Vor kurzem ist Kerr noch einmal in Paris gewesen und hat die Rue Paul Valéry aufgesucht. Dort, im fünften Stock, war die Wohnung, in der die Familie während der französischen Exilzeit gewohnt hatte. Natürlich war nach immerhin achtzig Jahren alles verändert, selbst die Wohnung war nun in mehrere kleine aufgeteilt. Eine davon durfte sie betreten, und den Blick in den Hof, erzählt sie, erkannte sie sogar wieder.
Sie habe Glück gehabt, zu überleben, schreibt sie. Dass sie es nicht dabei belassen hat, auch davon erzählt diese große Autobiographie.
TILMAN SPRECKELSEN
Judith Kerr: "Geschöpfe". Mein Leben und Werk.
Aus dem Englischen von Ute Wegmann. Edition Memoria, Hürth 2018. 176 S., Abb., geb.
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