Man sieht ein blaues Fahrrad und denkt an den letzten Sommerurlaub zurück: Assoziationserlebnisse wie dieses sind ein alltägliches Phänomen. Aber was sind ihre notwendigen Merkmale? In seiner der Tradition der Phänomenologie verpflichteten Abhandlung bestimmt Lambert Wiesing das Erfahren der eigenen Individualität als intrinsischen Bestandteil einer jeden Assoziation. Einzig durch ungefragt sich einstellende Assoziationen kommt es zu dem Erlebnis, ein spezifisches, einmaliges Individuum in der Welt zu sein. Nicht die Individuen machen die Assoziation, sondern die Assoziationen machen die Individuen.
Besprechung vom 13.06.2025
Das Mich der Assoziation
Der Einzige und sein phänomenologisch erschlossenes Eigentum: Lambert Wiesing erkundet die Innenseite der Individualität
In der 1700 erschienenen vierten Auflage seines "Versuchs über den menschlichen Verstand" hat John Locke dem zweiten Teil des Werks ein zusätzliches Kapitel beigegeben. Es trägt den Titel "On Association of Ideas" und gibt der Lektüre einige Rätsel auf. Anstatt die vorangegangenen erkenntnistheoretischen Überlegungen weiterzuführen, wendet Locke sich abrupt einer dubiosen Art der Verknüpfung von Ideen zu, vor der nicht einmal die Gescheitesten gefeit seien. Diese Unsitte bestehe darin, bestimmte Gedanken auf zufällige oder willkürliche Weise mit Vorstellungen zu verbinden, die der Sache nach nichts mit diesen Gedanken zu tun haben. Solche vernunftwidrigen Aberrationen, sagt Locke, sind eine durch schlechte Gewohnheit, nachlässiges Denken und unkontrolliertes "Wortgerassel" hervorgerufene "Art von Wahnsinn". In einer spektakulären Umdeutung entdeckt Lambert Wiesing in diesem Wahnsinn einen vorzüglichen Sinn. Der vermeintliche Störfall des Denkens erweist sich in seinem Buch über "Assoziationen" als ein Glücksfall des menschlichen Bewusstseins. Was Locke für einen Kontrollverlust hielt, ist laut Wiesing ein oft verkanntes Wahrzeichen menschlichen Geistes: die Gabe, der eigenen Individualität inne zu sein.
In der Beschreibung der Grundstruktur des assoziierenden Bewusstseins liegen Locke und Wiesing nicht weit auseinander: Eine Person sieht X oder denkt an X, wobei ihr unwillkürlich Y in den Sinn kommt, obwohl es keinen objektiven Zusammenhang zwischen X und Y gibt. Ein Beispiel bei Locke: Ein Mann hat sich an Honig übergessen und bekommt seither Zustände, sobald er das Wort "Honig" hört. Ein Beispiel bei Wiesing: Eine Frau sieht einen Gartenzwerg und muss an ihren Onkel Rudi denken, der solche Skulpturen besitzt. Die betreffende Verbindung bleibt rein subjektiv - dies aber, so Wiesing, in einem besonderen Sinn. Sie stellt sich präreflexiv als ein spontanes Widerfahrnis ein - in Form einer "Zumutung", gegen die das Subjekt nichts vermag. "Durch das Denken an etwas wird ungewollt das Denken an etwas anderes geweckt." Dieser Weckruf geschieht ohne Grund und bedarf keiner Begründung. Darin liegt für Wiesing kein Mangel, sondern gerade der Witz der Assoziation: das Geschenk eines exklusiven Bekanntseins mit sich. In Episoden der Assoziation erfährt sich das Subjekt als ein Individuum, das sich von allen anderen nicht graduell, sondern grundsätzlich unterscheidet. Diesem "Erlebnis" der je eigenen Individualität ist Wiesings Untersuchung mit radikaler Konsequenz gewidmet. Behauptet wird nicht lediglich, dass Personen ihre Individualität im Assoziieren entdecken und verspüren; behauptet wird, dass Individualität sich durch Prozesse des Assoziierens überhaupt erst bildet. Allein deshalb kann die These lauten: "Nicht die Individuen machen die Assoziation, sondern die Assoziationen machen die Individuen."
Wiesing nimmt damit die Spur seiner bemerkenswerten, weder nach Paris noch nach Frankfurt schielenden Depotenzierung des Subjekts wieder auf, die er in seinen Büchern "Das Mich der Wahrnehmung" sowie "Ich für mich" gelegt hat. In charmanter Anspielung auf Kants kopernikanische Wende plädiert er dort wie auch im neuen Buch für eine Perspektivenumkehr in der Philosophie des Geistes. Das Subjekt soll nicht länger von seinen konstruktiven und reflexiven Leistungen, sondern von den Zumutungen her verstanden werden, denen es vonseiten der Welt ausgesetzt ist. Aus der Warte des Subjekts wird nicht gefragt, wie "ich" mir die Welt erschließe, sondern wie die Welt "mich" erschließt. Im Kontakt mit Gewährsleuten wie vor allem Husserl, aber auch Heidegger, Sartre oder Manfred Frank entsteht so eine dichte Phänomenologie dessen, was Assoziationen der beschriebenen Art mit den Assoziierenden "machen": Sie gewähren ihnen das unverwechselbare Erlebnis ihrer unverwechselbaren Individualität. Diese von innen erfahrene Unverwechselbarkeit unterscheidet sich von derjenigen, die Personen von außen zugeschrieben werden kann. Wiesing gesteht ohne Weiteres zu, dass Personen in ihren Fähigkeiten, Ansichten, Charaktereigenschaften und mit ihrer Biographie auf ihre Weise einmalig sind. Diese Individualität aber bestehe aus einer Kombination von Eigenschaften, die auch für andere erkennbar sind und mit anderen geteilt werden können. Für das Widerfahrnis der Assoziation aber soll das nicht gelten. Denn hierin manifestiere sich eine besondere Form des Selbstbewusstseins - das "Individuumselbstbewusstsein". Im Assoziieren erlebt sich eine Person demnach exklusiv, auf eine nicht vertretbare Weise als Individuum: als dasjenige, "das einzig ich bin".
Laut Wiesing ist dieses Sonderbewusstsein von sich alles andere als folgenlos. In einem überraschenden Exkurs wird dies an Heideggers Unterscheidung zwischen einem "uneigentlichen" und einem "eigentlichen" Modus der Existenz sowie an der entsprechenden Gegenüberstellung bei Sartre verdeutlicht. In Wiesings Deutung kommt den Momenten der Assoziation die Rolle von positiven "Störfällen" im Einerlei eines durchschnittlichen Lebens zu, dank derer sich das Tor zu einer "eigentlichen" Existenzform wenigstens vorübergehend öffnet. Ein starkes Individualitätsbewusstsein, wird damit angedeutet, prädestiniert nicht zum Mitläufertum.
Das sind ausgreifende Überlegungen zu einem scheinbar marginalen Gegenstand. Vielleicht hat der Autor diesen Gegenstand deshalb in einem etwas zu hellen Licht porträtiert. Anders als Locke verbucht er die Präsenz von Assoziationen fast durchweg als willkommene Ereignisse. Nicht immer aber sind sie "wunderbare" oder "schöne" Momente" des Daseins. Menschen können von ihren Assoziationen geplagt werden - und traumatisierte Menschen erst recht. Das wirft die Frage auf, ob man an einem Individualitätsbewusstsein auch leiden kann, womit die weitere Frage berührt ist, wie befreiend das Geschehen der Assoziation in seinem Rückgang auf das isolierte Subjekt generell ist und wie es um die Isoliertheit des Subjekts der Assoziation tatsächlich steht.
Das phänomenologische Reinheitsgebot, dem Wiesing verpflichtet ist, schränkt den Fokus seiner Untersuchung ganz auf die innersubjektive Wirklichkeit des Assoziierens, auf das "solipsistische" Erleben der eigenen Einzigkeit ein. Assoziationen aber sind nicht notwendig idiosynkratischer Natur. So privat sie oft sind, reichen sie doch häufig - und bis hin zur Massenware - in ein kollektives Bewusstsein hinein. In kommunikativen Prozessen, sei es im kleinsten Kreis, sei es im Licht der Öffentlichkeit, können Assoziationen geteilt und verbreitet, gehegt und gepflegt, implementiert oder konterkariert werden. Angesichts des Satzes "Dieser Köter hat die ganze Nacht geheult", legt Gottlob Frege nahe, stellt man sich den fraglichen Hund unwillkürlich "etwas ruppig" vor. Das "Zustrombegrenzungsgesetz", das Friedrich Merz dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorlegte, hat der AfD allein durch seinen assoziationsreichen Namen die Zustimmung schmackhaft gemacht. Die sprachliche Dynamik dieser intersubjektiven Dimension des Assoziierens zieht Wiesing nicht in Betracht, wäre aber zumindest einen Seitenblick wert gewesen. John Locke jedenfalls war, als er sich im dritten Band seines Werks den "Wörtern" zuwandte, in Sorge, eine allzu assoziative Sprache könnte "die Rechte der Menschen ins Schwanken bringen". MARTIN SEEL
Lambert Wiesing: "Assoziationen". Das Erlebnis der Individualität.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 190 S., br.
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