Sehr spannend und politsch
Eine Woche wandern in den Alpen hab ich hinter mir. Ich bin aktuell nicht die fitteste- ich werde gerne auch mal von 80-jährigen überholt. Ich versuche das nicht persönlich zu nehmen und kämpfe mich Höhenmeter um Höhenmeter weiter. Manchmal sind die Wege sehr herausfordernd gewesen und ich bin tatsächlich zweimal von Männern darauf angesprochen worden, wie mutig sie es finden, dass ich keine Begleitung dabei habe. Ich war nämlich immer allein unterwegs, aber nie einsam. Zu dem Resümee kommt auch Martin Zinggl, der nach einer schweren Erkrankung zu Fuß von Wien nach Istanbul geht. Der @sulta gilt noch nicht lange als begehbarer Langstreckenwanderweg und ist weitgehend unbekannt. Süleyman I ist diesen Weg gegangen und hat dabei halb Europa erobert. Fast hätte er es bis Wien geschafft. Zinggl geht diesen nun in die andere Richtung zurück - und das ist wahrlich kein Spazierweg. Hape Kerkeling und sein Jakobsweg wirken nach dieser Lektüre wie ein Sonntagnachmittagspaziergang. Zinggl steht noch in seinem Heimatland auf widrige Umstände. Zugewachsene Pfade, brombeerranken, abgebrochene Brücken und Stacheldraht wollen ihn aufhalten. Er bleibt sich lange treu und geht wirklich jeden Meter von Feld zu Wald, von Dorf zu Großstadt. Die Atmosphäre in 100-Seelen Weilern gibt die politische Stimmung in Europa sehr gut wieder. Schon nach 50 km hat unser Pilger die Nase voll. Doch er macht weiter und gibt uns wandernd nicht nur historisches Know How, sondern auch Fragmente nationalistischen Gedankenguts der verschiedenen Nationen wieder, welches sich nach Süden hin weiter fortsetzt und Zinggl mehrfach an die Grenze der Freundlichkeit bringt. Über 8 Länder reiht sich Vorurteil an Vorurteil und das macht die Hoffnung auf ein tolerantes Miteinander immer unwahrscheinlicher, und Single merkt sehr schnell, dass es keinen Sinn macht, in die Diskussion zu gehen. Ich hab aber auch unglaublich viel auf dieser Reise gelernt. Dass Ungarn und die Slowakei eine gemeinsame Geschichte verbindet, die sich Orban jetzt zu Nutze macht, indem er EU Gelder nicht in sein eigenes Land investiert, welches er hingegen zu einer Festung ausbaut. Dass gerade der Balkan Spinner jeglicher Sorte anzieht, die ihre Verschwörungstheorien hier ganz in Ruhe ausleben können. Dass es im Grenzland zwischen Serbien und Kroatien eine staatenlose Zone gibt, in der ein Tscheche den Staat Liberta gegründet hat. Mit ausreichend Bitcoins könnt ihr eine Staatsbürgerschaft erwerben. Das in den 1980er Jahren türkische Mitbürger zwangbulgarisiert wurden, auch die, die schon lange nicht mehr lebten. Dass die Gastfreundschaft der Türken nachts aufhört. Und so viel mehr hat mir bewusst gemacht, wie wenig wir diesen Teil Europas kennen. An dem Satz eines Grenzbeamter namens Sven, der Südosteuropa als Toilette der EU bezeichnet ist viel Wahres dran. In jedem Land gibt es Menschen die Zinggl unterstützen, doch gibt es auch immer, die die Streit suchen und mit Hass reagieren. Und insgesamt gibt es auf Wanderungen viel zu wenig Topfengolatschen und viel zu viele Hunde.Denn dies waren seine größte Herausforderung. Hütehunde und Streuner haben seine Psyche an den Rand des Aushaltbaren gebracht. Die Lebensgefahr, die von Ihnen ausgeht, aber auch Hunger und Durst, die Unwahrscheinlichkeit einen Ort zum Schlafen zu finden, Mücken, Kletten und versperrte Wege haben mich mit leiden lassen. Auf meinen Wanderungen habe ich oft an den Autor denken müssen. Manchmal hat er mich sogar motiviert, denn wenn Martin Zinggl die 2329 km durch 8 Länder mit vielen Hürden geschafft hat dann werde ich ja wohl diesen verdammten Berg auch bewältigen. Okay, meine Hüfte jammert jetzt rum, aber so ausgezehrt wie unser Wandersmann bin ich dann doch nicht.Ich hab das Buch wirklich gerne gelesen. Es ist sehr anschaulich und mitreißend geschrieben, dabei hochpolitisch, mit Blick auf die kleinen Menschen, die bei den Entwicklungen in unserer Gesellschaft zwar nicht mitgedacht werden, aber sie doch maßgeblich prägen. Ein Stoff, den auch Produzenten & Regisseure für sich entdecken sollten - das gäbe eine wunderbare Verfilmung ab. Ich wünsche dem Autor auf jeden Fall, dass ihn diese nahezu unmögliche Reise mental stärker gemacht hat, und empfehle das Buch allen Abenteuerlustigen die nicht nur physisch, sondern auch geistig gerne auf Wanderschaft gehen.