Hulda ist ein Thriller, der die Leserinnen und Leser zurück an den Ursprung einer der markantesten Ermittlerfiguren des nordischen Krimis führt. Mit dem vierten Band, der zugleich als eigentlicher Auftaktpunkt der Reihe fungiert, öffnet Jónasson ein neues Kapitel, das in die frühen 1980er Jahre Islands zurückführt - eine Zeit, in der die junge Polizistin Hulda Hermannsdóttir noch am Anfang ihrer Laufbahn steht, geprägt von Ehrgeiz, Unsicherheit und einer Energie, die bereits erahnen lässt, welche außergewöhnliche Karriere ihr bevorsteht.Die Geschichte setzt mit einem scheinbar kleinen, beinahe banalen Hinweis ein: In einer Jagdhütte in einem entlegenen Tal im Norden Islands taucht ein alter Teddybär auf. Ein Fund, der zunächst unscheinbar wirkt, der aber in direktem Zusammenhang zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Fall steht - dem mysteriösen Verschwinden eines Babys. Mit dieser knappen Prämisse gelingt es Jónasson, eine Sogwirkung zu erzeugen, die typisch ist für seine Bücher: Das unscheinbare Detail wächst sich zu einem Netz aus Fragen, Verdächtigungen und Gefahren aus, in dem nicht nur das Schicksal des verschwundenen Kindes nachhallt, sondern auch Hulda selbst auf die Probe gestellt wird.Hulda reist gemeinsam mit einer neuen Kollegin in diese karge, verschlossene Region. Schon die erste Begegnung mit den Dorfbewohnern ist frostig, von einer Atmosphäre des Schweigens und Misstrauens geprägt. Jónasson fängt meisterhaft die Stimmung einer Gemeinschaft ein, die nichts preisgeben will und deren Verschlossenheit die Ermittlungen erschwert. Diese Dynamik wird zusätzlich dadurch verschärft, dass Huldas Kollegin ehrgeizig ist - eine Rivalin im Team, die Hulda zwingt, sich nicht nur gegen äußere Widerstände, sondern auch gegen Konkurrenz aus den eigenen Reihen zu behaupten.Die Spannung wächst langsam, aber stetig, so wie es für den Nordic Noir typisch ist. Jónasson inszeniert seine Geschichte ohne lauten Knall, sondern mit einer unterschwelligen Bedrohung, die sich unaufhaltsam verdichtet. Stromausfälle, ein Mord, das Ausfallen des Telefons - all diese Elemente steigern die Dramatik und setzen Hulda unter enormen Druck. Es ist genau diese Art von Stresssituation, in der Hulda zu Höchstform aufläuft: eigenwillig, beharrlich und unbeirrbar, auch wenn sie Gefahr läuft, sich an den Abgründen der eigenen Zweifel zu verlieren.Besonders interessant ist, dass Jónasson Hulda nicht nur als Ermittlerin, sondern auch als Privatperson zeigt. Ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann Jón ist belastet, ihre Rolle als Mutter und Frau wird ebenso beleuchtet wie ihr beruflicher Ehrgeiz. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Bild einer jungen Frau, die versucht, ihren Platz zu finden - in einem Umfeld, das Frauen nicht unbedingt gleichberechtigt behandelt, und in einer Zeit, in der Kompromisslosigkeit noch schneller aneckt.Stilistisch bleibt Jónasson seiner Linie treu: eine klare, ruhige Sprache, die niemals effekthascherisch wirkt, sondern auf der Genauigkeit von Beobachtungen und der Kraft der Atmosphäre beruht. Die karge Landschaft Islands wird nicht ausufernd beschrieben, sondern in präzisen, fast lakonischen Bildern eingefangen, die genau das richtige Maß an Stimmung vermitteln. Der Thriller lebt vom Kontrast zwischen dieser schroffen Natur und den stillen, unterschwelligen Spannungen der Figuren, die mehr verbergen, als sie zeigen.So ist Hulda mehr als ein klassischer Cold-Case-Thriller. Es ist zugleich eine psychologische Studie einer jungen Kommissarin, die sich noch formt, die ihre eigenen Grenzen austestet und in diesem Prozess zu jener Frau wird, die Leserinnen und Leser in den späteren Bänden bereits kennen und schätzen gelernt haben. Wer die Serie verfolgt, entdeckt hier die Ursprünge jener Züge, die Hulda später auszeichnen werden - ihre Hartnäckigkeit, ihre oft unnachgiebige Art, aber auch ihre Verletzlichkeit.Ragnar Jónasson gelingt es mit diesem Band, sowohl einen spannenden Krimi als auch ein atmosphärisches Charakterporträt vorzulegen. Das Tempo ist bewusst zurückgenommen, aber gerade dadurch entfaltet der Roman seine Sogwirkung: Schritt für Schritt, Szene für Szene, wird der Leser tiefer hineingezogen in ein Geflecht aus Lügen, Schuld, Geheimnissen und alten Wunden.