Jede Tat hat eine Geschichte
Ein smartes Hörbuch voller Unruhe, das uns bis zum Schluss in Atem hält.
Eva Herbergen ist Strafverteidigerin mit ganzer Seele. Ihre Aufgabe ist es, Menschen vor Strafe zu bewahren: die berühmte Schriftstellerin, den gebrechlichen Millionär, die überforderte Stiefmutter. Sie weiß, es braucht nicht viel, dass aus einem Menschen ein Verbrecher wird, vielleicht sogar ein Mörder. Es genügt ein dunkler Moment, der ein Leben für immer überschatten kann. Ein dunkler Moment, der die Wendung markiert - zum Opfer oder zum Täter.
Auch Eva kämpft mit diesen Grenzen, die sie selbst schon überschritten hat, mit den blinden Flecken unserer moralischen Verurteilung. Mit jedem Fall, den Eva erzählt, mit jedem Fall, in dem die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Recht verschwimmt, lösen sich ihre Gewissheiten auf. Bis sie sich fragt, welche Konsequenzen sie ziehen muss.
Dunkle Momente ist ein packendes Hörbuch über die ethischen und moralischen Dilemmata jedes Einzelnen, darüber, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer das Gleiche sind. Mit unbestechlichem Blick stellt Elisa Hoven die Eindeutigkeit infrage und zeigt, dass ein Mensch immer mehr ist als seine Tat.
Besprechung vom 04.06.2025
Geschichten aus der Grauzone
In ihrem Episodenroman "Dunkle Momente" erkundet Elisa Hoven Verbrechensfälle, in denen das Justizsystem an seine Grenzen kommt
Bisher hat die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven nur juristische Sachbücher geschrieben sowie, zusammen mit Juli Zeh, ein Kinderbuch über Mobbing und Vorurteile. "Dunkle Momente" ist nun ihr erster Roman, allerdings geht es auch hier um Fragen des Rechts. Im Zentrum stehen neun Fallbeispiele, und zu einem Roman wird das Buch nur durch das verbindende Element der Ich-Erzählerin Eva Herbergen: Sie ist als Rechtsanwältin an der gerichtlichen Aufarbeitung der Fälle beteiligt und erzählt die juristischen Ermittlungen aus ihrer Sicht.
Elisa Hoven übernimmt dabei das literarische Verfahren von Ferdinand von Schirach, der die Justiz-Erzählung zur eigenen literarischen Form entwickelt hat. Das Verbrechen selbst wird in der dritten Person erzählt, sobald die Rechtsanwältin das Mandat übernimmt, wechselt die Perspektive in die erste Person. Mit den titelgebenden "dunklen Momenten" ist in Elisa Hovens Roman jener Moment gemeint, in dem das Verbrechen geschieht und das Leben des Täters kippt, und auch hier findet sich eine Parallele bei Ferdinand von Schirach. Im Vorwort zu "Verbrechen" (2009), dem ersten Band seiner Trilogie mit Erzählungen aus der Strafjustiz, heißt es: "Wir tanzen unser Leben lang auf einer dünnen Schicht aus Eis. Manche trägt das Eis nicht, und sie brechen ein. Das ist der Moment, der mich interessiert."
Stilistisch allerdings sind die beiden Autoren kaum vergleichbar. Schirachs radikal minimalistische Erzählweise verweigert einen Einblick in Motivlagen oder Innenwelten. Elisa Hovens Ich-Erzählerin versucht dagegen zu verstehen, wie es zur Tat kommen konnte, sie fühlt sich ein in ihre Mandanten, überdies diskutiert sie mit ihrem Ehemann Peter am Küchentisch die juristischen Dilemmata. Dabei hat auch Eva Herbergen ihre dunklen Momente: Wie ein Damoklesschwert hängt ein schwerer Fehler aus der Vergangenheit über ihr, Angst vor falschen Entscheidungen drängt sie immer wieder dazu, Grenzen zu überschreiten - und neue Fehler zu begehen. So fällt sie auf das falsche Geständnis eines Mörders herein und trägt dazu bei, dass dessen unschuldige Ehefrau im Gefängnis landet (immerhin gelingt es ihr später durch eine List an der Grenze der Legalität, den Fehler wiedergutzumachen). Und einer Täterin hilft sie gar, die Leiche ihres Opfers zu verstecken, um die zweifache Mutter vor dem Gefängnis zu bewahren - als am Ende deren wahres Motiv offenbar wird, wird Eva Herbergen dies bereuen.
Literarisch ist dieser doch sehr herbeikonstruierte Roman konventionell, manchmal gar trivial. Doch da Kunst hier nur Mittel zum Zweck ist, zielen ästhetische Kriterien am Anliegen dieses Romans vorbei. Das Anliegen, das die Autorin mit ihrem Roman transportieren will, ist keineswegs trivial. "Der Mensch ist mehr als seine Taten, auch ein Mörder ist an den meisten Tagen ein normaler Mann, manchmal sogar ein guter", lässt Elisa Hoven ihre Ich-Erzählerin sagen; ihre Aufgabe als Anwältin bestehe darin, Menschen vor Strafe zu bewahren. "Selbst, wenn sie schuldig sind."
In diesen spannend erzählten Geschichten ist nichts, wie es scheint, in der Justiz gibt es kein Schwarz und Weiß. Eine junge Frau ist für den Tod der vierjährigen Tochter ihres Partners verantwortlich. Eva Herbergen setzt vor Gericht alles daran, einen Freispruch zu erwirken, doch damit hat sie die Angeklagte "um ihre Strafe betrogen", wie sie erkennen muss: "Wer sich schuldig fühlt und nicht bestraft wird, der bleibt schuldig, für den gibt es keine Erlösung."
Die meisten der Fallbeispiele des Romans sind laut Autorin von realen Verbrechen inspiriert. Elisa Hoven wagt sich dabei auch an die Fiktionalisierung eines Falles, an den man sich mit Schaudern erinnert. Der "Kannibale aus Köpenick" geht auf Armin Meiwes zurück, den "Kannibalen von Rotenburg", der 2006 wegen Mordes zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt wurde. In der Romanversion heißt der Täter Frank Schanzer, in der Fiktion taucht ein Video auf, das zeigt, dass es sich um einen Suizid des Opfers durch Erhängen handelte. "Und das änderte alles", erklärt uns die Ich- Erzählerin: "Einen Menschen zu töten, ist strafbar, selbst wenn der es möchte. Einem Menschen bei einer Selbsttötung zu helfen, ist hingegen erlaubt. (...) Hätte Schanzer seinem Freund einen Stoß gegeben, wäre es Mord gewesen, so war es nichts. Das Recht zieht manchmal hauchdünne Grenzen." Im Roman kommt der Kannibale mit einer Bewährungsstrafe wegen Störung der Totenruhe davon. Einige Monate später allerdings kann sich ein junger Mann nur knapp aus Schanzers Keller retten. "Sie hätten den jungen Mann fast auf dem Gewissen gehabt", so der Kommentar des Staatsanwalts, der sich bestätigt sieht.
Während die juristischen Exkurse geschickt in die Handlung eingewoben sind, sodass man sich kaum je belehrt fühlt, gibt es Geschichten, die wie ein Lehrbeispiel fürs juristische Seminar wirken, so etwa der Fall der Gruppenvergewaltigung einer jungen Kellnerin auf einer Junggesellenparty (in Grundzügen findet man diese Geschichte übrigens auch schon bei Schirach). Einer der kostümierten Feiergäste hat das Lokal bereits vor der Tat verlassen, und so gibt es unter dem Dutzend Angeklagten einen Unschuldigen. Darf man alle verurteilen, auch wenn einer von ihnen unschuldig ist? Oder müssen alle freigesprochen werden, womit die Tat ungesühnt bliebe? Politisch am interessantesten ist der Fall eines Rebellenführers aus Uganda, der in Deutschland von einem Zeugen wiedererkannt wurde und nun wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt ist. "Die Richter hier wissen nichts über uns oder über unser Land. Sie haben kein Recht, über mich zu urteilen", sagt der Täter, der als ehemaliger Kindersoldat zugleich ein Opfer ist.
Elisa Hoven bringt die unauflösbaren juristischen Widersprüche des Rechtsstaats sehr genau auf den Punkt, deshalb lohnt sich die Lektüre, auch wenn "Dunkle Momente" in literarischer Hinsicht kein großer Roman ist. SIEGLINDE GEISEL
Elisa Hoven: "Dunkle
Momente". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2025.
336 S., geb.
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