Die Geschichte spielt in der Grenzregion zwischen den USA und Kanada. In den frühen 60er Jahren kommt eine indigene siebenköpfige Familie wie jedes Jahr nach Maine, um Beeren zu pflücken. Eines Tages verschwindet in der Mittagspause die vierjährige Ruthie. Die intensive Suche der Familie nach ihr bleibt vergebens, und ihr Fehlen verursacht Wunden, die niemals heilen. Insbesondere ihr Bruder Joe, zwei Jahre älter, der sie als Letzter sah, kommt nie darüber hinweg.
Das Buch erzählt die Geschichte aus zwei Perspektiven, die sich kapitelweise abwechseln. Joe blickt am Ende seines Lebens zurück, und anhand seiner Erinnerungen wird nachvollziehbar, wie einzelne Ereignisse die Weichen stellen können für ein ganzes Leben. Sie zeigen aber auch, dass seine Geschwister und Eltern ihre eigenen Wege gefunden haben, um mit Trauer und Verlust umzugehen.
Die andere Perspektive ist die von Norma, einer Frau, die zeitlebens spürt, dass irgendetwas nicht stimmt. Ihre wiederkehrenden Träume fühlen sich real an wie Erinnerungen, und das Verhalten ihrer Eltern ist mehr als seltsam.
Durch die gewählte Erzählweise und den Inhalt des Prologs ist bereits von Anfang an relativ klar, was mit Ruthie passiert ist, und auch, wie die Geschichte wohl ausgehen wird. Spannung kommt daher beim Lesen keine auf. Der sehr ruhig und einfühlsam erzählte Roman legt den Fokus eher auf andere Aspekte: Was macht der Verlust eines Familienmitgliedes mit dem Leben der anderen, wie stark sind familiäre Bande, selbst wenn man nichts von dieser Familie weiß? Und wie geht eine andere Familie mit einem ungeheuerlichen Geheimnis um? Auch die Diskriminierung, der Indigene ausgesetzt waren klingt immer wieder an, wenn auch eher am Rande. So zeigt die US-Polizei im Maine kein Interesse, nach Ruthie zu suchen, und auch die kanadischen Residential Schools, in denen die Kinder der First Nations zwangsweise untergebracht wurden, werden erwähnt.
Insbesondere der Erzählstrang um Joe hat mich sehr berührt, und ich konnte seine Verlorenheit, seine Rastlosigkeit und seine Wut beim Lesen spüren. Bei Norma war ich hin- und hergerissen. Es gab bereits früh Hinweise, die sie hätten stutzig machen können, denen sie aber nicht weiter nachgegangen ist. Das ist auf den ersten Blick seltsam, aber aus eigener Erfahrung im familiären Umfeld weiß ich, dass diese Reaktion durchaus nicht ungewöhnlich ist. Weniger greifbar war für mich die Gleichmut, mit der Norma später alles hinnimmt. Ich hätte mit Wut, mit Verzweiflung, mit massiven Vorwürfen gerechnet. Normas Reaktion erschien mir wenig glaubhaft.
Angesichts des enormen Erfolgs ins Kanada, mit dem auch hier das Buch beworben wurde, hatte ich mir noch etwas mehr erwartet. Dennoch habe ich Beeren pflücken sehr gerne gelesen.