Besprechung vom 13.02.2020
Totengespräche mit Stan und Tommy
Fetter Engel im Schnee: Markus Orths bittet Thomas von Aquin und Stan Laurel zum "Picknick im Dunkeln"
Zwei Männer tappen im Dunkeln. Sie haben keinen blassen Schimmer, wo sie sind und wie sie wieder aus der Finsternis ans Licht kommen wollen, aber immerhin, "solange wir reden, leben wir". Der eine ist Stan Laurel, die dünnere Hälfte von Dick und Doof, der tollpatschige, "unabsichtliche Anarchist" mit Melone und Fliege. Der andere ist der berühmteste Theologe der Welt, Thomas von Aquin, der "stumme Ochse", eine "Geistseele", so dick, dass man ihr der Legende nach zum Schreiben einen Halbmond aus dem Tisch heraussägen musste. Stan Laurel starb 1965, Thomas 1274. Siebenhundert Jahre und etliche Welten liegen zwischen dem ungläubigen Komiker und dem gelehrten Dominikanermönch, aber zusammen sind sie ein unschlagbares Paar. Nicht zufällig nannte Beckett immer Stan und Ollie als Idealbesetzung für seine metaphysischen Clowns in "Warten auf Godot".
Markus Orths rüttelt mit seinen kühnen Versuchsanordnungen und bizarren Gedankenspielen immer wieder an den Grundmauern unserer Logik: "Erwachen aus dem Einerlei. Einbruch des Unmöglichen. Angriff auf das Gewohnte" definierte er einmal als Impuls seines Schreibens. In "Lehrerzimmer" beschrieb der ehemalige Lehrer die Schule als DDR-ähnliches System von Spitzelei, autoritärem Terror und bürokratischem Leerlauf, in "Alpha & Omega" träumte sich ein Mädchen mit einem hohlen Hund in eine postapokalyptische Zukunft. "Die Tarnkappe" war ein verkappt kafkaesker Thriller um die erstaunlichen Möglichkeiten, die sich einem unsichtbaren Menschen eröffnen. "Das Zimmermädchen" drang, als Hotelangestellte quasi unsichtbar, in das Leben der anderen ein, durchwühlte die Koffer der Gäste, probierte ihre Kleider und Identitäten aus und machte die Leser zu ihren Komplizen. Nebenbei schreibt Orths auch noch Kinderbücher; gerade hat er eines über die "Luftpiraten" geschrieben, die hoch über der Erde in Phantasiewolken und logischen Luftlöchern hausen.
Jetzt also treffen sich Stan und Tommy im Limbus, zwei Tote - denn die Finsternis ist natürlich kein Escape-Room-Spiel, sondern ein Gleichnis - an der Schwelle zwischen Seligkeit und Verdammnis. Geschickt verknüpft Orths in seiner "Göttlichen Komödie" drei Erzählebenen: das physische Herumtasten im Dunkeln, philosophische Dispute über Gottesbeweise und Weltweisheit, Erinnerungen aus den Leben des Komikers wie des Klerikers. Die beiden haben manches gemein, aber sie sind natürlich auch getrennt durch mehr als Zeit und Raum: Finsteres Mittelalter trifft auf dunkles 20. Jahrhundert, Showbusiness auf Kirche, Glauben auf aufgeklärte Skepsis, Slapstick und Klamauk auf ernste Predigten. Stan war fünfmal verheiratet, Thomas liebte (hier im Roman) allenfalls eine Nonnen namens Andra züchtig. Der Scholastiker wollte Gott dienen und die Welt mit allen Sinnen vernünftig begreifen, der "Schlauspieler" vor allem seinem dominanten Vater imponieren. Das Lachen und der Tod schweißen sie zusammen, die ausweglose Lage, das Zittern und Blödeln im stockfinsteren Keller und am meisten das gemeinsame Reden, die Solidarität der Nichtsehenden. Jeder für sich ist hilflos, einsam, dumm, schwach. Zusammen sind sie weniger "menschenseelenallein", können Räuberleitern bilden, sich scheu umarmen und trösten, und das zählt in der Vorhölle nicht wenig.
Thomas von Aquin ist eindeutig der Klügere, aber er hat auch ein paar Bretter vor dem Kopf, etwa seinen stoisch unbeirrbaren Glauben an die eine Wahrheit, um den Stan ihn manchmal beneidet. Orths hat mit seinem Roman ursprünglich Dante, dann aber vor allem seinem verstorbenen Vater ein Denkmal setzen wollen, der auch absolutes Gottvertrauen mit unverwüstlichem Humor verband. Thomas ist ein Doktor Allwissend, aber er hat naturgemäß noch nichts von Kant und Darwin, Film und Fernsehen gehört. Sein Laienbruder klärt ihn über die Errungenschaften der Moderne auf. Der Aquinat kann sich nicht mit Stans "heillosem Lachen" anfreunden, aber er schmunzelt auch mal gern über Schwiegermutterwitze. Was nicht bei Aristoteles steht, ist für Thomas weder existent noch vorstellbar, und dessen Buch über die Komödie ist bekanntlich verschollen. Aber nicht nur für kindliche Luftpiraten gilt: "Sinnlosigkeit macht sich Luft im Unsinn."
Orths hat Philosophie studiert und weiß aus G.K. Chestertons Märchenbuch über Thomas von Aquin, dass Vernunft und Glaube, Logik und Lachen sich nicht ausschließen müssen. Am Ende profitieren alle: Der dicke Doctor Angelicus wird heiter und übermütig, sein Cicerone weise. Stan findet einen Freund, der ihn, anders als Ollie, nicht immer herumschubst und maßregelt, und Thomas lernt, aus vollem Herzen und intellektuell unbeschwertem Kopf zu lachen. "Etwas zu sehen, mit dem man nicht gerechnet hat, ist der Ursprung des Lachens": Lachen ist für Orths praktische Lebenshilfe, "Einübung ins Sterben", letzter Trost, aber im letzten Stündlein ist dann jeder allein. Stan geht mit dem - historisch verbürgten - letzten Wort "Ich möchte jetzt lieber sterben als Ski fahren" hinüber. Thomas von Aquin hört mit dem Schreiben auf und beginnt eine Schneeballschlacht; von ihm bleibt der Abdruck eines "fetten Engels im Schnee" zurück.
Auch von "Picknick im Dunkeln" bleibt ein guter Eindruck. Orths macht das Schwere leicht und das Dunkle hell und lässt sich auch vom Dämon der "Ablenkung vom Wesentlichen" nicht in die Irre führen. In seinem hochkonzentrierten Kammerspiel - Orths hat von seinem Roman auch eine Theaterfassung erstellt - bleibt alles in einer filigranen, leichthändigen Schwebe zwischen absurder Parabel und göttlichem Slapstick. Treffen sich zwei Männer im Dunkeln, der eine dick, der andere auch gar nicht doof: So fangen schlechte Witze an. Bei Orths wird aus dem Grimassieren im Dunkeln ein Totengespräch voller Lebensweisheit und gutem Witz.
MARTIN HALTER
Markus Orths: "Picknick im Dunkeln". Roman.
Carl Hanser Verlag,
München 2020. 238 S., geb.
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