
Besprechung vom 01.09.2025
Chronistin einer Kultur, die das Geschriebene verachtet
Fernanda Melchor schreibt beklemmende Geschichten über die Zustände in ihrer mexikanischen Heimat
Fernanda Melchor trotzt ihre Geschichten dem Leben ab. Die Erzählung "Das hier ist nicht Miami", die dem vorliegenden Band den Titel liefert, handelt von einem Schiff aus der Dominikanischen Republik, das im Hafen von Veracruz in Mexiko anlegt. Der junge Hafenarbeiter Paco, der seinen Lohn mit einer Nachtschicht aufbessern will, beobachtet mit seinen Kollegen, wie die Polizei das Boot durchsucht. Einer der Stauer vermutet, dass Drogen an Bord seien. Stattdessen führen die Beamten Frauen und Kinder aus dem Schiffsrumpf und verfrachten sie in Busse.
Als die Arbeiter noch ein paar weitere Stunden im kalten Wind auf den letzten Auftrag ihrer Nachtschicht warten, taumeln ihnen plötzlich ein paar nasse Gestalten vom Pier entgegen. "Die Frauen und die Alten hatten es nicht geschafft, aus dem Schiffsrumpf zu entkommen, und waren festgenommen worden, aber diese neun waren kräftig und verzweifelt genug gewesen, um ins Wasser zu springen und sich an die mit Muscheln besetzten Betonsäulen zu klammern, dem aufgewühlten Meer und der Kälte zu trotzen, die in wütenden Böen durch den Hafen fegte, bis die Beamten abgezogen waren." Als der kräftigste der blinden Passagiere Paco fragt, ob man hier in Florida sei, muss der lachen. Warum er nach Amerika wolle, wird der nasse Mann gefragt. Seine Schwester wohne in New York, sagt er. Und die Männer, die seine Eltern umgebracht haben, auch. In seinen Augen funkelt dabei kalte Mordlust.
Fernanda Melchor versammelt zwölf Geschichten aus dem Leben der Menschen in Veracruz. Darin lassen sich korrupte Ermittler von Drogenbossen erpressen. Kinder halten Lichter über dem Strand für Ufos, weil sie nicht wissen, wie ein Narco-Flugzeug aussieht. Ein Gefängnis wird für Mel Gibsons Dreharbeiten geräumt, und ein ehemaliger Häftling bekommt Angst, als er die Mauern der Haftanstalt als Komparse für den Filmdreh noch einmal betreten soll. Und eine Gruppe junger Leute steigt auf der Suche nach Abenteuern in eine verlassene Villa ein und findet mehr gruselige Geister, als sie es vertragen kann.
Als "Crónicas" ordnet die Autorin ihre Erzählungen ein. Das Wort bezeichnet eine lateinamerikanische literarische Mischform, die sich Elemente aus der subjektiven Reportage nimmt, sie mit Beobachtungen des investigativen Journalismus mischt und einen Schuss Fiktion hinzufügt. Die Ortsbeschreibungen kommen in dieser Melange einem Ton nahe, den man aus Raymond Chandlers Romanen kennt: "In der Luft lag nicht nur der scharfe Geruch des Fischs in Knoblauchmarinade, der mit Fischeintopf gefüllten Empanadas und der Tintenfische in Zwiebeln, die als kleine Stärkung serviert wurden, sondern auch das unwiderstehliche Parfüm halbseidener Geschäfte."
Fernanda Melchor, 1982 in Veracruz geboren, arbeitet in ihrer Heimatstadt als Journalistin. Für ihr literarisches Schaffen bewegt sie sich auf der südamerikanischen Abzweigung jener Straße, die Journalisten in den USA in den Sechzigerjahren als New Journalism erschlossen haben. Ihr vor sechs Jahren international gefeierter Roman "Saison der Wirbelstürme" erinnert an Truman Capotes "Kaltblütig"; auf der Basis wahrer Begebenheiten erzählte die Mexikanerin vom Mord an einer Frau, die in der Provinz als Hexe galt, und erkundete dabei den desolaten Zustand der Gesellschaft ihres Heimatlandes.
Nun ist mit dem vorliegenden, schmalen Band auch ihr Erzähldebüt ins Deutsche übersetzt worden. Im Vorwort stellt die Autorin klar, dass es sich nicht um journalistische Texte handle, "denn sie enthalten keine Daten, harten Fakten und auch keine Autokennzeichen". Dennoch seien sie stark von der Realität inspiriert. Das Fiktionale, so Melchor, ergebe sich aus der Form, dem Ordnungsschema, das wir beim Erzählen auf das Geschehene anwenden, denn "die Wirklichkeit hat keinen richtungsweisenden, sinngebenden Willen." Die Aufgabe der Schriftstellerin aber ist es, diesen Sinn zu extrahieren.
Melchor gelingt das mit ihrem Geschichtenmosaik, wobei sie immer auch die verschiedenen Arten der Erzähltradition ihres Landes transparent macht. Die Geschichte über die Geistervilla etwa erfährt sie von einem Ex-Freund. Mehrmals lässt sie sich von ihm die Vorfälle aus seiner Jugend beschreiben: "Ein echter Veracruzaner, dachte ich gebannt: darauf trainiert, die Erinnerung an männliche Heldentaten zu bewahren, als Teil einer Kultur, die das Geschriebene verachtet, die kein Archiv kennt und das mündliche Zeugnis vorzieht, den dramatischen Bericht, den beglückenden Akt des Sprechens." So beglückend ist es auch, Melchors Crónicas zu lesen. Sie erzeugen Gänsehaut. MARIA WIESNER
Fernanda Melchor: "Das hier ist nicht Miami". Roman.
Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar.
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2025. 160 S., br.
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