Ein sehr gelungener Roman über den schleichenden Sog in die rechte Szene
Annegret Liepolds Unter Grund hat mich besonders berührt, weil der Roman zeigt, wie leise und unspektakulär Radikalisierung beginnen kann. Die 256 Seiten entfalten eine Geschichte, die nicht auf Schockeffekte setzt, sondern auf leise Verschiebungen im Denken und Fühlen der Figuren. Gerade deshalb wirkt sie so eindringlich.Im Mittelpunkt steht Franziska ("Franka") Fuchsberger, deren Lebensweg exemplarisch zeigt, wie man in Situationen gerät, die man niemals bewusst gewählt hat. Doch Liepold führt ihre Leserinnen und Leser unglaublich klug und sensibel an diese Materie heran: Sie verurteilt nicht, sie belehrt nicht - sie öffnet Türen und zeigt, wie sehr Verführung und Verführtwerden in der rechten Szene miteinander verwoben sind. Wie zwei kommunizierende Röhren beeinflussen sie sich gegenseitig: Das Anlocken durch Gemeinschaft, Stärke oder einfache Antworten auf der einen Seite, das Hineingleiten aus Unsicherheit, Verletzlichkeit oder Sehnsucht nach Zugehörigkeit auf der anderen.Dieser Blick ohne Polemik, aber mit klarer Haltung, hat mir besonders gefallen.Die Autorin nutzt Zeiten- und Perspektivwechsel, um zu zeigen, wie Frankas Kindheit im Dorf, das Schweigen der Elterngeneration und ihre späteren Erfahrungen als junge Frau zusammenhängen. Diese Sprünge wirken nie abrupt - im Gegenteil: Sie machen sichtbar, wie Vergangenheit und Gegenwart sich gegenseitig erhellen. Der einfach gehaltene Schreibstil verstärkt diesen Effekt, weil er die Figuren nahbar, ihre Entscheidungen nachvollziehbar und ihre Irrwege erschreckend real erscheinen lässt.Was mich beim Lesen besonders beschäftigte, ist der Gedanke, dass Menschen, die in solche Kreise geraten, nicht einfach "verloren" sind. Der Roman macht deutlich: Wir müssen den von der rechten Szene Verführten den Weg zurück ebnen. Liepold zeigt durch Frankas Geschichte, dass Ausstiegswege möglich sind - aber nur, wenn wir verstehen, wie die Dynamiken funktionieren, die in diese Szenen hineinziehen.Unter Grund ist für mich kein politischer Roman im klassischen Sinn, sondern ein zutiefst menschlicher. Er macht sichtbar, was viele lieber nicht sehen wollen, und tut dies mit einer Feinfühligkeit, die lange nachwirkt. Ein Buch, das hilft zu verstehen - und das damit vielleicht auch hilft, Brücken zu bauen.