Fantastische Grusel- und Liebesgeschichte in einem ... eins meiner Lieblingsbücher
Im Epilog des Mystery-Romans "Marina", im spanischen Original 1999 erschienen, kehrt der ehemalige Internatsschüler Óscar noch einmal nach 15 Jahren an den Ort der Geschehnisse zurück. Wie passend, dachte ich, denn vor etwa 15 Jahren habe ich diesen Roman zum ersten Mal gelesen. Er wurde damals zu einem meiner Lieblingsromane, wobei ich auch zumindest Ruiz Zafóns drei Romane vorher und zwei Romane danach ähnlich großartig finde.Jetzt habe ich Marina nochmal gelesen - vielleicht mit anderen Augen, denn logischerweise hat sich viel verändert. Damals lebte Carlos Ruiz Zafón noch. 2020 ist er jung verstorben (und so mancher Lesende wird ähnliche Fälle im Freundeskreis gehabt haben). Insofern schwingt beim Lesen dieses ohnehin tragischen Romans über den Tod noch mehr Traurigkeit und Wehmut mit."Marina" hat zwei Handlungsebenen. Der Hauptplot ist ein Mystery-Thriller, den ich gerne dem Magischen Realismus zuordnen würde. Allerdings geht der Roman davon aus, dass alle Geschehnisse darin mehr oder weniger wissenschaftlich erklärbar sind.Óscar und Marina stolpern darin in ein riesiges, labyrinthartiges Netz aus Verschwörungen und finsteren Machenschaften hinein, das sie zu entwirren versuchen. Letztlich können sie gar nicht anders: Die geheimnisvollen Figuren wie eine entstellte Schauspielerin, ein kränklicher Arzt, ein pensionierter Polizist, ein zwielichtiger Geschäftsmann, zwei humorlose Zirkusleute, eine junge Frau namens María Shelley und eine Doktor-Frankenstein-Figur verwickeln die beiden Jugendlichen in ihr Komplott, geben Hinweise oder locken sie in eine Falle. Dabei durchqueren die beiden die finstersten Viertel und Gassen Barcelonas und ermitteln in einem Gewächshaus voller vermoderter Marionetten, in der Kanalisation oder einem gigantischen, nie zu Ende gebauten Theater.Die zweite Handlungsebene ist die Liebesgeschichte zwischen Óscar Drai und Marina Blau, einem Mädchen, das einsam mit ihrem Vater in einer verwunschenen Villa lebt. Alle drei sind so unglaublich gutherzig und lügen einander doch den ganzen Roman über an, denn wie in jeder guten Liebesgeschichte gibt es ein großes Hindernis, das die jungen Leute nicht zusammenkommen lässt. Der Autor enthüllt dieses Hindernis erst, nachdem der Kriminalplott komplett eskaliert und in einem furiosen Finale aufgelöst ist (dieses kam mir beim ersten Lesen noch übertriebener vor als beim zweiten Mal).Ich konnte mich beim wiederholten Lesen an vieles nicht erinnern - genaugenommen habe ich während des Lesens selbst schon wieder Teile des verworrenen Mysteriums vergessen. Zumindest aber das bittersüße Ende dürfte für immer an einem hängenbleiben, und ich habe beim zweiten Mal die vielen kleinen Hinweise darauf wahrgenommen."Marina" ist wie eine Blaupause für einen Mystery-Roman, der nach dem Zwiebelschalenprinzip Facette um Facette des großen Geheimnisses enthüllt. Nur fällt es mir hier schwer, während des Lesens mitzurätseln. Es werden nicht so sehr kleine Hinweise fallengelassen, die man logisch kombinieren muss. Der Autor enthüllt neue Puzzlestücke immer dann, wenn Óscar und Marina eine der ins Mysterium verwickelten Figuren gestellt haben und diese in einem ausführlichen Flashback ihr Herz ausschüttet (und oftmals sind das ihre letzten Worte in dem Buch).Die Freude am Lesen kommt hier für mich aber auch nicht durch logisches Schlussfolgern auf, sondern durch die emotionale Achterbahnfahrt, die man durchlebt. Das Buch ist gruselig - hütet euch vor schwarzen Schmetterlingen! - und tragisch-romantisch zugleich. "Marina" ist perfekte Unterhaltung und kann in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken anregen.Vier weitere Romane und ein Buch voller Kurzgeschichten, die ebenfalls in einem schattenhaften Barcelona spielen - dann deutlich früher als hier 1979 und um geschichtliche Betrachtungen angereichert -, sollten "Marina" folgen. Sie sind alle sehr lesenswert.