
Das Netz als Echokammer, die Sichtbarkeit als Währung, das Schweigen als Strafe.
Zehn Menschen, wie sie das Netz hervorgebracht hat, folgen einer Einladung in ein abgelegenes Herrenhaus. Ein Event? Auf jeden Fall, nur ohne Empfang. Darunter eine Mutter, die ihre Kinder zur Marke gemacht hat. Eine Busfahrerin zwischen Heilstein und Hassrede. Eine Influencerin mit dem berühmtesten Arsch des Landes. Drei Frauen mit Followerzahlen wie Aktienkurse. Sieben Männer im Kommentarbereich. Doch plötzlich ist alles real. Offline. Immer mehr von ihnen verschwinden. Und jemand sieht zu.
»Ein Roman wie eine Kommentarspalte: gnadenlos, laut und schwer wegzulegen." Kathrin Weßling
»Zehn Menschen, die das Internet hervorgebracht hat: Elina Penner bringt sie an ihre Grenzen. Und uns alle gleich mit. Ein Roman wie ein digitaler Autounfall, der nachhallt. « MdB Ricarda Lang
»Elina Penner ist die neue Capote. Lässig kreiert sie eine rauschhafte Erzählung, deren Protagonisten an den Absurditäten unserer egozentrischen Gesellschaft zerbrechen. « Ninia LaGrande
»Elina Penner, die Stimme unserer überforderten Frauen-Generation, hält uns lachend den Spiegel vors Gesicht, bringt uns zum Heulen und zum Verstehen. Das kann nur sie so gut. « Caroline Rosales
»Das Internet ist endlich kein Neuland mehr: Denn Elina Penner hat es verstanden und auch die Menschen, die darin herumgeistern. Und sie erklärt es uns in rasantem Tempo und mit einzigartigem Humor. « Dana Vowinckel
Besprechung vom 02.11.2025
Influencer ohne Internet
Elina Penner hat einen Roman über die sozialen Medien geschrieben, der trotz seiner Konstruktionsfehler eine eigenartige Sogwirkung entfaltet.
Was für eine Art Roman wären eigentlich die sozialen Medien im Jahr 2025? Diese oder eine ähnliche Frage muss sich Elina Penner, die vor drei Jahren mit ihrem autobiographisch gefärbten Roman "Nachtbeeren" debütierte, für ihr neues Buch gestellt haben. "Die Unbußfertigen" erzählt von sieben Männern und drei Frauen, die im Netz mal mehr, mal weniger "Fame" angehäuft haben und jetzt in einem großen Haus zusammengebracht werden: Man stellt ihnen das Internet ab und lässt sie gewissermaßen ungefiltert aufeinander los.
Dahinter steckt eine App mit dem sprechenden Namen "Haimlik". Sie ist als Plattform ohne Feed oder Follower konstruiert. Die App fragt ihre Nutzer nach ihren Geheimnissen. Um die letzte Stufe ("Rank 10") zu erreichen, müssen sie verraten, was das Schlimmste ist, das sie jemals getan haben.
Die zehn Männer und Frauen, die sich jetzt im Herrenhaus wiederfinden, hatten auf diese Frage höchst unterschiedlich geantwortet: Da ist beispielsweise Justin, ein selbst ernannter "Fuckboi" um die 30, der erfolgreiche Frauen ausnutzt und sich auf ihre Kosten ein schönes Leben macht. Jutta wiederum, eine Busfahrerin, ist im Netz als "Lady Wisdom" für Sterndeutungen und alternative Heilmethoden zum Star geworden - aber vielleicht ist es eher so, dass sie sich an der Angst verunsicherter Frauen bereichert hat - und indirekt einige von ihnen auf dem Gewissen hat, da sie nach einer Beratung bei Lady Wisdom ihre Krebstherapien abgebrochen haben. Die "Momfluencerin" Anny stellt täglich Fotos und Videos ihrer Kinder ohne deren Einverständnis ins Netz - und dann gibt es noch ein weiteres Geheimnis aus Annys Vergangenheit, das erst im Laufe der Geschichte bekannt wird. Yannik, der erst seit Kurzem mit der Schule fertig ist, verbreitet im Auftrag der "PfD", der Partei für Deutsche, Lügen und Propaganda, um junge Menschen anzuwerben. Das alles haben die zehn der "Haimlik"-App anvertraut - und niemand scheint zu bereuen, was er oder sie getan hat. Aber vielleicht ändert dieses von "Haimlik" organisierte Wochenende auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern es ja.
Denn eine KI-generierte Stimme verrät allen Anwesenden nach ihrer Ankunft das dunkelste Geheimnis der anderen - und fordert sie auf, Buße zu tun. Was die Figuren zu Beginn nicht ahnen: Sie werden rund um die Uhr gefilmt. Erst wenn sie sich reuig zeigen, dürfen sie das Herrenhaus verlassen und werden in ein TV-Studio gelotst, wo sie einer Moderatorin Rede und Antwort stehen müssen.
"Haimlik TV" ist - so lernt der Leser erst am Ende des Buchs - als Abschreckung gegen jene Social-Media-Welt entwickelt worden, die der reichste Mann der Welt, der erkennbar Elon Musk ähnelt, sich erdacht hat. Seine Ex-Frau wiederum ist der Kopf hinter "Haimlik". "Ohne einen Plan zu haben", erklärt sie der Influencerin Natasch, einer der sieben Frauen im Haus, "hat er euch alle zu seinen Gehilfen gemacht. Er hat menschliche Gier unterschätzt, auch seine eigene. Er hat euch Herzchen und Abhängigkeit gegeben. Ihr habt ihn reich gemacht. Im Gegenzug hat er Wahlen beeinflusst und Regierungen gestürzt." Das ist die Realität, in der "Die Unbußfertigen" spielt.
Elina Penner hat sich für ihre Geschichte an Agatha Christie, aber auch an einer zuletzt sehr beliebt gewordenen Variante des Kammerspiels bedient, man denke etwa an Filme wie "Glass Onion: A Knives Out Mystery" (2022) oder Finn Jobs 2024 erschienenen Roman "Damenschach". Das ist keine schlechte Idee: Wenige Ortswechsel, eine überschaubare Anzahl an Figuren, eine Art Stillstand der hyperaktiven Gegenwart, der es ermöglicht, komplexe gesellschaftliche Probleme oder charakterliche Untiefen der Figuren zu ergründen.
Elina Penner reduziert denn auch die Szenen- und Landschaftsbeschreibungen in ihrem Text auf das Nötigste. Das führt jedoch nicht zu einer dramaturgischen Verdichtung, sondern zu Orientierungslosigkeit. Bis zum Ende hat der Leser kein klares Bild davon, wo genau die Figuren sich eigentlich befinden. Sicher: Das anscheinend alte Herrenhaus hat eine Küche, mehrere Gästezimmer, die mit Schlüsseln aus schwarzem Gusseisen "nicht gerade leise" geöffnet werden können, es gibt eine Bibliothek und einen Salon, aber die Autorin hetzt so atemlos von Dialog zu Dialog, von Figur zu Figur, dass sich aus keinem Bild ein Eindruck festzusetzen vermag. Das ließe sich sogar noch als Stilmittel rechtfertigen - schließlich ist jeder Social-Media-Feed ähnlich flüchtig.
Doch da der Plot für sich genommen bereits recht überladen daherkommt, weil Elina Penner viel mehr will als "nur" eine Social-Media-Kritik zu formulieren, lastet der gesamte Druck auf der Charakterentwicklung der zehn Protagonisten. Die Interaktion der Figuren und ihre jeweiligen Wünsche, Sehnsüchte oder Ängste müssten den Roman tragen. Leider verfährt die Autorin hier ähnlich oberflächlich wie bei der Beschreibung des Settings. Sie lädt zwar jede Figur mit einer gewaltigen Tiefe auf, doch das Bild, was sich dem Leser am Ende vermittelt, wirkt eher wie Reality-TV als wie ein Kammerspiel.
Natasch, die Influencerin, besitzt zum Beispiel "den berühmtesten Arsch Deutschlands", sie verdankt ihn harter Arbeit, nicht etwa einer Schönheits-OP, "auch, wenn es ihr im Internet niemand glauben wollte". Aber warum hat sie sich in ihrer Art zu kommunizieren "radikaler Ehrlichkeit" verschrieben? Soll diese nur zum Gelingen der offenen Beziehung mit ihrem Partner Marco beitragen, der ebenfalls ins Haus geladen wurde? Oder ist dieser Wunsch nach Ehrlichkeit eine Konsequenz aus der Ohnmacht, die Nataschs Schwester erfahren musste, die Opfer eines Rache-Pornos wurde? Natasch sehnt sich danach, irgendwann aus dem Netz getilgt zu werden, als komplette Anonyma durch die Welt wandeln zu können - aber warum eine so erfolgreiche Influencerin das will, das erschließt sich aus dem nicht, was der Roman von ihr zu berichten hat.
Gut möglich, dass dieser Eindruck einem dramaturgischen Konstruktionsfehler geschuldet ist: Natasch ist die eigentliche Hauptfigur des Romans, wirkt aber vor allem als Handlungsauslöserin, indem sie die anderen Figuren mit ihren schlimmsten Verfehlungen konfrontiert - obwohl sie selbst ja auch zu den zehn Gästen gehört, die von den "Haimlik"-Macherinnen eingeladen wurden. Hätte sich Penner auf ihre Hauptfigur konzentriert, aus "Die Unbußfertigen" hätte ein großartiger Roman werden können. Denn das eigentliche Thema, das die Autorin umtreibt, sind toxische Männlichkeit und die Erniedrigung von Frauen im Netz. Mit ihrer Souveränität ("Ich melke das System, das mich gleichzeitig in einen beschissenen Käfig steckt") und ihrer Weitsicht hätte Natasch den Text weit tragen können. So bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Elina Penners neuer Roman sprüht vor intelligenten Dialogen und wirkt in seiner Sprache sehr gegenwartsnah. Allein der Plot will zu viel. Und auch die Charaktere tragen schwer daran, Phänomene sozialer Medien repräsentieren zu müssen.
TOBIAS LENTZLER
Elina Penner: "Die Unbußfertigen". Aufbau Verlag, 352 Seiten
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