Eine Geschichte, die leise und eindringlich zugleich ist, die mich erinnerte, inspirierte, forderte und versöhnte - Jahreshighlight 2025!
Wenn Bücher zur richtigen Zeit kommen, fühlt es sich manchmal ein wenig magisch an. So erging es mir mit "Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle" von Anne Freytag. Ich hatte gerade ein Buch unterbrochen, das mich etwas genervt hat und in einer spontanen Eingebung mit dem Wunsch nach mehr Tiefe zu diesem Roman gegriffen, der schon seit dem Erscheinungstag in meinem Regal stand. Schon nach wenigen Seiten war ich ganz in die Geschichte versunken und wurde von einer Erzählung empfangen, die leise und eindringlich zugleich ist, die mich erinnerte, inspirierte, forderte und versöhnte. Kurz gesagt: Ein weiteres Jahreshighlight 2025!Auch wenn mich mein letztes Buch der Autorin, "Das Gegenteil von Hasen", sehr begeistert hat, habe ich "Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle" lange vor mir hergeschoben. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, lag das an dem Corona-Thema, das hier nochmal ausgerollt wird. Pandemie, Lockdown, Kontaktverbote, Isolation, Inzidenzen - das waren Themen, mit denen ich mich beim Erscheinungstermin 2023 erstmal nicht mehr beschäftigen wollte, als die Zeit endlich hinter uns lag. Nun mit etwas mehr Abstand empfand ich es allerdings als hochspannender Kontext für eine Geschichte. Anne Freytag hat mir mit ihren treffenden Beschreibungen der ganz speziellen Mischung aus Unsicherheit, Angst, Langweile, Einsamkeit und Gemütlichkeit, die mit den ersten Lockdowns einherging, nochmal vor Augen geführt, was für eine verrückte und auch prägende Zeit das war und außerdem gezeigt, dass ich mit dem Lockdown mittlerweile abgeschlossen und Frieden geschlossen habe."Anfangs hat es noch Spaß gemacht, das alles. Weil man noch nie einen Lockdown hatte, weil man noch nie so lange zu Hause war, weil es genug gab, das liegengeblieben ist- Aber irgendwann kann man sich nicht mehr an der Oberfläche halten. Und dann sinkt man hinab in einen Teil seines Wesens, den man bis dahin nicht kannte oder bewusst gemieden hat. Isolation macht etwas mit einem."Im diesem Kontext nimmt die Autorin mit in den Mikrokosmos der Familie Bernard und zerlegt meisterhaft deren Beziehungsgefüge. Da sich deren Leben - wie bei so vielen - während des Corona-Lockdowns auf das eigene Haus reduziert, spielt die Geschichte beinahe ausschließlich in den vier Wänden der Bernards und gibt uns so die Möglichkeit, die Beziehungen, Eigenheiten und Gefühle der Bewohner mit der Lupe zu betrachten. Durch die starke Fokussierung des Romans schafft Anne Freytag ein Erzähluniversum, das so lebendig, vielschichtig und atmosphärisch dicht ist, dass man nach wenigen Kapiteln das Gefühl hat, selbst Teil dieses Hauses, der Familie Bernhard, zu sein. Ihr Schreibstil ist dabei leise, aber präzise. Sie hat ein feines Gespür für Zwischentöne und findet Worte für Emotionen, für die viele keine Sprache haben. Es geht nicht um Pointen, sondern ums Begreifen, ums Fühlen, ums Mitgehen. Und das hat mich so abgeholt, dass ich beim Lesen die verschiedensten Emotionen durchlaufen und eine Vielzahl an Zitaten markiert habe. Im Endeffekt ist das Buch wie ein Stillleben - es passiert auf den ersten Blick nicht viel, aber dann kann man sich - wenn man möchte - stundenlang in den Schattierungen und Details verlieren. Es gibt wenig Bewegung, aber unendlich viele Nuancen!"Eine wahrgewordene Dystopie, die sich in der Realität irgendwie langweiliger anfühlt als bei Netflix. Wie ein misslungener Spannungsbogen mit massiven Längen. Bei einem Katastrophenfilm geht alles Schlag auf Schlag - mehrere Wochen zusammengefasst in ein paar Minuten. In der Realität bleiben Monate Monate. Alles passiert in Echtzeit. Keine Schnitte, kein Soundtrack, keine Dramaturgie, einfach nur ein Tag nach dem anderen. So ein Drehbuch hätte kein Mensch gekauft."Auch die Handlung beschränkt sich auf das aller notwendigste und spielt sich während Gesprächen am Esstisch, beim Nachdenken in der Badewanne, in flüchtige Begegnungen im Flur, lauten Streits, aber auch besonders im Ungesagten, kleinen Gesten und Blicken ab. Es ist eine stille Geschichte, fast wie ein modernes Kammerspiel, nichts ist überinszeniert, nichts konstruiert. Stattdessen dürfen sich Konflikte entwickeln, Gefühle wiederholen, Themen im Kreis drehen, bevor sie schließlich zur Sprache kommen, sich entladen oder in einem schmerzhaften, aber ehrlichen Moment der Einsicht auflösen. Das erfordert Geduld und einen langen Atem, ermöglicht aber auch die intensive Nähe zu den Figuren. Unterstützt wird diese Intimität durch liebevoll eingefügte Illustrationen - kleine Zeichnungen von Sandwiches, der Badewanne oder Wellensittich Pete, die dem Text eine zusätzliche persönliche Note verleihen und als visuelle Brücken in Sallys Gedankenwelt dienen."Ich habe noch nie jemandem das Herz gebrochen. Bisher war ich immer auf der anderen Seite. Und irgendwie dachte ich, Täterin zu sein, wäre um einiges angenehmer. Doch es ist gleich scheiße, nur anders."Es ist lange her, dass ich beim Lesen nicht nur mit einer Figur mitgefühlt, sondern tatsächlich das Gefühl hatte, sie zu sein. Ungefiltert zu fühlen, was sie fühlt, zu denken, was sie denkt, ohne die analytische Instanz von mir als Leserin dazwischen. So habe ich als Kind und Teenager beinahe immer gelesen - mit Kopfsprung direkt in die Geschichte und mich dabei komplett verloren. Es war grandios, wenn auch emotional anstrengend, das nun wieder zu erleben. Das lag gar nicht unbedingt daran, weil mir die Figuren so ähnlich waren - in vielen Aspekten unseres Lebens sind Sally und ich sehr unterschiedlich -, es war eher weil die Autorin Gefühle so präzise in Worte gießen kann, wie ich das kaum je zuvor gelesen habe. Meine Teenie-Jahre liegen noch nicht allzu weit hinter mir und plötzlich war ich wieder mittendrin in dieser verwirrenden Zeit direkt nach der Schule, dem Schwebezustand zwischen Kind und Erwachsenem. Ich habe selten ein Jugendbuch gelesen, dass so perfekt in Worte fasst, was es bedeutet, ein junger Mensch zu sein. All das Grausame, Verstörende, Verunsichernde, aber auch all das Schöne, Neue, Freie, dass diese Lebensphase mit sich bringt."Du kannst tun, was immer du willst, sagt Mama. Einmal abgesehen davon, dass das derzeit nicht stimmt, klingt es für mich immer ein bisschen wie eine Drohung. (...) Ich glaube, wenn man zu viele Möglichkeiten hat, wird man bewegungsunfähig. Zu viel Freiheit ringt einen zu Boden. Mir ist klar, dass das Jammern auf hohem Niveau ist, aber mein ganzes Leben ist auf hohem Niveau, wie sollte es da in Bezug auf meine Probleme anders sein? Abgesehen davon, ändert das nichts an den Tatsachen: Zu viel - egal wovon - ist zu viel."Sally - über weite Teile der Handlung die Ich-Erzählerin - lebt in einem permanenten inneren Spagat zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihrer Umwelt. Sie muss lernen, ihre Unsicherheit, ihre Angst vor Ablehnung, ihre ewige Zuschauerinnenrolle zu überwinden und anfangen, Raum einzunehmen, zu dem zu stehen, was sie wirklich möchte, sich nicht länger für andere kleinzumachen. Leni, die etwa ab der Hälfte ebenfalls aus ihrer Perspektive erzählen darf, ist dabei viel mehr als nur der Katalysator für Sallys Veränderung. Auch sie trägt ein Päckchen, kämpft mit dem Verlust ihrer Mutter, mit der Frage nach ihrer Identität und mit dem Mut, zu sich selbst zu stehen. Ihre Verbindung ist damit weniger eine klassische Romanze als eine gegenseitige Spiegelung: zwei junge Frauen, die sich selbst im anderen erkennen und dadurch den Mut finden, sich nicht länger zu verstecken. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden folgt dementsprechend keinem klassischen romantischen Narrativ, das sich geradlinig entfaltet. Vielmehr ist sie ein emotionaler Prozess, der zögerlich, tastend, verwirrend und doch von einer tiefen Intimität durchdrungen ist. "Ich dachte, wenn man nichts macht, macht man nichts falsch. Inzwischen glaube ich, dass es nichts Schlimmeres gibt, als sich zu nichts zu bekennen - vor allem nicht zu sich selbst. Wie ein Beweis dafür, wie wenig wichtig man sich ist. (...) Ich will aus den Vollen schöpfen, ich will mich kopfüber in mein Leben stürzen und komplett darin eintauchen. So tief, dass ich mich verliere und wiederfinde. Ich will wissen, wer ich bin, sagen, was ich zu sagen habe, die Ablehnung anderer aushalten."Neben den beiden fand ich die Beziehung zwischen Sally und ihrer Mutter Marianne besonders eindrucksvoll. Marianne ist keine Figur, die man leicht ins Herz schließt - zu engstirnig, zu unfair, zu streng erscheint sie häufig. Doch mit der Zeit versteht man sie besser, erkennt ihre Verletzungen, ihre Unsicherheiten - und irgendwann beginnt man, ihre Fehler zu verzeihen. Es ist diese Art von subtiler Charakterentwicklung, die lange nachhallt. Etwas weniger Raum nehmen hingegen Sallys Geschwister Charlie, Franny und Henry ein, die die Familiendynamiken allerdings ebenfalls interessant ergänzen."Und dann denke ich, dass die Aussage doch irgendwie idiotisch ist - dass man auf Männer oder Frauen steht, weil das so wahllos klingt. Als würde man tendenziell auf jeden Mann und auf jede Frau stehen, und nicht nur auf eine handverlesene Auswahl, die im Laufe des Lebens wechselt."Mit dem Strauß ihrer Figuren behandelt Anne Freytag in "Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle" eine Vielzahl an Themen, die sich organisch und unaufgeregt in die Handlung fügen. Egal ob Coming-of-Age, Identität, Sexualität, psychische Belastung, Familienkonflikte, Abschied und Selbstbehauptung - sie beschreibt feinfühlig, wertungs- und filterlos, was ihre Figuren gerade beschäftigt. So gibt es bei familiären Konflikten, aber auch Themen wie Tabak und Drogenkonsum keine pädagogische Wertung, alles wird so stehengelassen, wie es sich im Kontext entwickelt. Das Leben wird erzählt, wie es ist - in all seinen Widersprüchen, Grauschattierungen und Dilemmata. Es geht um kleine Krisen, große Gefühle, grausame Worte und das gut-bürgerliches Milieu mit all seinen Privilegien und spießigen Fallstricken. Insgesamt zieht sich allerdings eine zentrale Botschaft wie ein roter Faden durch den Roman: Dass es wichtig ist, was man fühlt und denkt. Dass das, was "Vom Mond aus betrachtet" keine Rolle spielt und im Vergleich mit anderen Schicksalen wie Meckern auf hohem Niveau erscheint, dennoch Bedeutung hat. Und dass man das Recht hat, Raum einzunehmen, laut zu sein, für sich einzustehen - selbst wenn man damit aneckt. Dass es sich immer lohnt, die eigene Stimme zu suchen und auf diese zu hören. "Wir befinden uns auf einem Steinbrocken, der durchs Weltall rast. Durch etwas, das unendlich groß ist, und damit größer, als ich es je begreifen werde. Wenn man es so sieht, sind wir verdammt unbedeutend. Und alles, was sich wichtig anfühlt, ist im Grunde vollkommen egal - vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle. Und hier bedeutet es die Welt. Wir sind viele kleine Launen. Sieben Milliarden Launen, die arbeiten und einkaufen gehen, sich duschen, sich verlieben, sich trennen, Müll trennen, im Stau stehen, Hemden bügeln, Kredite aufnehmen, fiktive Zahlen, die man abzahlen muss, sieben Milliarden Lebensentwürfe und Träume."Fazit"Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle" ist ein Buch, das tief in den Mikrokosmos einer Familie im Lockdown einsteigt und vor allem in seiner Zurückhaltung eine enorme Wucht entfaltet. Anne Freytag hat hier ein Plädoyer für das eigene Fühlen, für das Sichtbarwerden, für das Ich-sein in einer Welt, die so oft lieber weghört, geschrieben. Ein stiller, ehrlicher und eindrucksvoller Roman, der noch lange nach dem letzten Satz in einem weiterklingt!