Besprechung vom 15.09.2025
Schläft kein Lied in allen Dingen
Natur, Musik und die geheime Liebe zweier Männer: Das Hörbuch "Die Geschichte des Klangs" von Ben Shattuck
Alles geht seinen Gang, aber was, wenn plötzlich eine folgenschwere Havarie Wunden verursacht, die zwar verheilen können, jedoch nie wirklich verarbeitet werden? Dies passiert dem Autor und Sänger Lionel Worthing, einer Hauptfigur in der Erzählung "Die Geschichte des Klangs" von Ben Shattuck. Er ist über achtzig Jahre alt und wird durch einen Zufall mit einer entscheidenden Phase aus seiner Jugend konfrontiert. Das führt zu plötzlicher Schlaflosigkeit, weshalb ihm sein Arzt rät, zur Vergangenheitsbewältigung über diese Episode zu schreiben. Und so erinnert sich Lionel daran, wie es war, als er 1916 am Konservatorium im ländlichen Maine ein Gesangsstudium begann.
Mit seinen Kommilitonen sitzt er eines Abends in einer verräucherten Kneipe und lernt dort den smarten, etwas undurchsichtigen David kennen. Der komponiert, kann meisterlich Klavier spielen und zieht manchmal durch die Lande, um dem Volk aufs Maul zu schauen. Die Songs und Melodien, die er dabei sammelt, sind nämlich im Begriff zu verschwinden, was er nicht möchte, denn sie bewahren das musikalische Denken und Fühlen der breiten Masse auf. Die beiden jungen Männer verlieben sich ineinander, was damals freilich niemand wissen durfte. Lionel hat das absolute Gehör, vermag schon als Kind den Geräuschen um sich herum objektive Notenwerte zuzuordnen, verbindet sie außerdem subjektiv mit Farben und Geschmäckern. Welche auditive Resonanz David in ihm auslöst, wird nicht genau benannt, es muss so etwas wie die poetische Tonkulisse der ganzen Welt gewesen sein. 1919 verbringen die zwei während eines Studienprojekts einen unbeschwerten Sommer unter freiem Himmel, bei dem sie, ausgerüstet mit einem Grammophon, Volkslieder aufnehmen, die Wälder New Englands wie einander genießen: "Wir duschten unter einem schmalen Wasserfall und vögelten auf den Felsen." Natur, Musik, Sex: Alles ist in Bewegung und voller Euphorie.
Völlig anders verläuft das Leben von Annie in der zweiten Erzählung, die eng mit der ersten verknüpft ist. Ihr Mann Henry unterrichtet an einer Provinzuniversität, sie hat ihre akademische Karriere für ihn aufgegeben, wird allerdings als kinderlose Hausfrau nicht glücklich. Beim Entrümpeln entdeckt sie einen Koffer mit Phonographenwalzen, auf denen Lionel und David seinerzeit die Balladen aufgenommen haben. Als sie ihn der Vorbesitzerin überbringt, stellt sich heraus, dass diese die Ehefrau von David war, der entweder bisexuell war oder eine bürgerliche Fassade pflegte. Sie scheint ihn, wie Lionel in der ersten Erzählung, immer noch zu lieben, als Mann und als Komponist.
Der Schriftsteller Ben Shattuck, 1984 in Massachusetts geboren, schildert diese Irrungen und Wirrungen der Liebe mit narrativem Schwung und beherzt geerdeter Sachlichkeit. Der Hörbuch Hamburg Verlag hat "Die Geschichte des Klangs" parallel zum Erscheinen des Buches als ungekürzte Lesung mit Reinhard Kuhnert und Tessa Mittelstaedt herausgebracht. Die beiden sind wunderbar besetzt, er als sonor-abgeklärter Lionel mit melancholischen Retrospektiven, sie als frustrierte Ehefrau, die von einem selbstbestimmten Dasein träumt, in dem sie nicht vorwiegend den Maßgaben ihres Mannes genügen muss. Die Doppelperspektive verleiht den Erzählungen einen anderen Bezugsrahmen als in Annie Proulxs berühmter Short Story "Brokeback Mountain". Die zwei schwulen Cowboys darin hatten seinerzeit in einer homophoben Umwelt ebenfalls einzig die Natur als Liebesrefugium. Der eine von ihnen verstirbt unter ungeklärten Umständen. Auch über Davids Ende wird nichts Genaues mitgeteilt. Seine Witwe ist kurz angebunden: "Er ist längst tot, ein Jahr nach unserer Hochzeit gestorben. Es war schrecklich. Fragen Sie mich nicht danach. Die schlimmste Erfahrung meines Lebens." Und der greise Lionel denkt sich beim Abhören: "Aber diese Walze erinnerte mich an das, was ich verpasst hatte: ein Leben, von dem ich nichts wusste, von dem David aber ein Teil war. Das richtige Leben. Wie lächerlich kurz es gewesen war! Nur ein paar Monate. Die Erinnerung an Glühwürmchen und Nacktbaden unter dem Wasserfall hatte bloß sehr feine, lange Rillen in der Membrane der Zufriedenheit hinterlassen, die ich im Lauf der Jahre hatte entstehen lassen: ein gutes Haus, beruflicher Erfolg, freundliche Nachbarn, ein paar großartige Beziehungen. Ein vergeudetes Leben."
Natürlich stützt sich "Die Geschichte des Klangs" auf die Harmonien wie Dissonanzen der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum, vom "Rascheln der Kiefernnadeln" über das "Zischen des Fetts an einem Stück Fleisch in der Pfanne über dem Feuer" bis zum Moment, wenn "sich ein Gewitter am Horizont mit drei Tönen räusperte". Oder das unangenehme Geräusch, wenn Henry beim Essen auf das Besteck beißt. Und wie die historischen Tonträger knarzen und die Laieninterpreten die Songs vortragen. Gewiss kann man sich das alles beim Zuhören autark imaginieren, doch bei einem Hörbuch hätte man sich eigentlich mehr akustisches Kolorit und mehr phonetische Präsenz erwartet. Leider öffnet es den Echoraum nicht, den die Worte beschwören. Zwar singt Reinhard Kuhnert einmal einen Song an, und Tessa Mittelstaedt hat sowieso Musik in der Stimme. Das Lied indes, das, um mit Eichendorff zu sprechen, "in allen Dingen" schläft, bleibt hier trotzdem lediglich ein unerfülltes Versprechen. IRENE BAZINGER
Ben Shattuck: "Die Geschichte des Klangs". Lesung mit Reinhard Kuhnert und Tessa Mittelstaedt. Hörbuch Hamburg Verlag, 2025. 1 MP3-CD, 135 Min.
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