Atmosphäre und voller Wärme in rauer Umgebung
Bei dem Buch neigt man ja dazu, es sofort mit einem Werk von Benjamin Myers zu verwechseln. Der Vorname des Autors ist der gleiche, die Aufmachung des Covers geht in eine ähnliche Richtung und auch der Inhalt würde passen. Doch Benjamin Wood hat genau das geschafft, was ich mir beim letzten Buch von Myers erhofft hatte - Atmosphäre auszustrahlen.Thomas Flett zieht tagein tagaus mit seinem Pferd und dem Wagen ans Meer, um Krabben und anderes Kleingetier aus dem Schlick zu bergen. Er kennt die Gezeiten und passt ihnen sein Leben an. Er lebt noch bei seiner Mutter, die mit 36 Jahren früh gealtert ist. Es sind die 60er Jahre in England und der fiktive Ort Longferry war damals noch ein Weiler, der für niemanden besonders interessant wäre, ausser für seine Einwohner. Heute wäre es wahrscheinlich ein idyllisches touristisches Örtchen.Thomas wirkt behäbig und etwas langsam. Sein Körper meldet sich mit Anfang 20 überproportional oft durch Schmerzen deren Behandlung er vernachlässigt. Er wirkt bisweilen etwas lethargisch und ein wenig hoffnungslos. Sein Leben scheint sich bis ans Ende seiner Tage deutlich vor ihm abzuzeichnen. Da hilft es auch nicht viel, dass er ab und an auf einer Gitarre rumzupft. Dann kommt Edgar ins Dorf und teilt Thomas seine Visionen mit. Und wie Dornröschen erwacht der Krabbenfischer aus einer Trance, und ihm wird klar, dass es so viel mehr auf der Welt zu entdecken gibt. Edgar scheint für ihn die Tür in eine andere Dimension zu öffnen.Wood hat mit Thomas eine Figur erschaffen, die uns einerseits sehr fremd ist, deren Gedanken sich aber in jedes Jahrzehnt verpflanzen lassen. Er wirkt, wie ein großer Bär der wortkarg seiner Arbeit nachgeht. Doch wenn wir ihn näher kennen lernen, entdecken wir auf einmal den Feingeist in ihm. Er hat einen Bezug zur Literatur und vor allem zur Musik. In ihm steckt ein kleiner Künstler, gefangen in einem Ort und Beruf, der nicht viel Kreativität zulässt.Wood benutzt eine wirklich angenehme und einnehmende sprachliche Form. Obwohl die Geschichte ruhig erzählt wird, hatte ich nicht einmal den Eindruck, mich zu langweilen oder verloren zu gehen. Obwohl der Protagonist alles andere als ein attraktiver und vielleicht sogar noch nicht mal sehr sympathischer Zeitgenosse ist, mochte man ihn und wünschte ihm nur das Beste. Die kleinen Dramen oder die etwas mystische Situation in der Mitte des Buches haben gut gepasst und mich voll abgeholt.Ich kann erkennen, was den Roman zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des Bookerprize gemacht hat. Obwohl es in einer rauen Gegend spielt, ist es ein warmes und tröstendes Buch, dass einen an die Hand nimmt und bei mir sehr viele liebevolle Gefühle ausgelöst hat. Eine Empfehlung für alle, die etwas Hoffnung und Nähe brauchen.