Was bedeutet es arm zu sein in Deutschland? Nicht nur für den Geldbeutel, sondern auch für die Chancen, Gefühle, das Erleben, letztlich jeden einzelnen Aspekt des Lebens? Denn nicht weniger ist Armut - eine Erfahrung von Totalität, die die ganze Lebenswelt eines Individuums prägt. Hier setzt Celsy Dehnert mit - Das Gefühl von Armut - an und beleuchtet Armut als Lebenswelt der Betroffenen, angereichert mit ihren eigenen biografischen Erfahrungen.Für mich waren die Einsichten aufgrund meiner eigenen Sozialisation zwar nicht neu, ich bin der Autorin jedoch unglaublich dankbar, dass sie darüber schreibt. Ich habe mich selbst als Jugendliche gewundert, dass niemandem in meiner Umgebung aufzufallen schien, dass es mit erheblichen finanziellen Aufwendungen für eine Familie verbunden ist, wenn ein Kind das Abitur macht, denn es macht für viele Familien durchaus einen Unterschied, ob das 16 Jährige Kind stattdessen eine Lehre beginnt und zum Haushaltseinkommen beitragen kann, oder eben noch kostet, an Schulmaterial, Busgeld etc. Dies ist nur einer der vielen Aspekte in denen sich Armut zeigt und Lebenschancen nachhaltig beeinflusst. Celsy Dehnert zeigt eindrücklich die vielfältigen gesellschaftlichen Absurditäten auf, die im Schatten der Mehrheitsgesellschaft stattfinden und gleichzeitig das Leben von Menschen mit Armutserfahrung determinieren. Dabei dekonstruiert sie akribisch und nachvollziehbar das Versprechen von Erfolg durch Leistung in unserer Gesellschaft und setzt diesem das leider realistische Bild eines Prekariats entgegen, das allein aus eigener Anstrengung dem Teufelskreis der Armut kaum entkommen kann. Eine von Klassismus geprägte Struktur und Kultur in unserer Gesellschaft tragen vielmehr zum Erhalt der bestehenden Verhältnisse bei, statt diesen wirksam etwas entgegen zu setzen und damit die Lebenssituation von Armut Betroffener zu verbessern.Besonders gut hat mir das Kapitel Frauengesundheit gefallen, ein Thema, das viel zu wenig in den Fokus gerückt wird. Der Umgang in unserer Gesellschaft mit Menstruation, Verhütung und Vorsorgeuntersuchungen ist nicht nur viel zu oft von Sexismus geprägt, bei Armutsbetroffenen wirkt dieser unheilvoll intersektional mit klassistischen Elementen.Celsy Dehnerts Ausführungen können außerdem Ausgangspunkt sein, auch grundsätzlich zu hinterfragen, ob ein Gesellschaftsmodell, in dem Konsum über soziale Beziehungen und das Miteinander bestimmt, eines ist, das wir uns tatsächlich wünschen. Leichte Schwächen zeigen sich für mich in der sprachlichen Umsetzung, ebenso wie stellenweise inhaltlich. Phasenweise sind die Ausführungen leider gelegentlich redundant und auch sprachlich konnte mich der Text nicht vollständig überzeugen, da Worte in folgenden Sätzen öfter wiederholt werden. Zum Teil waren mir die Aussagen zu simplifizierend, die Idee einer bewussten klassistischen Diskriminierung wird aus meiner Sicht an einigen Stellen überstrapaziert.Ich finde es mittlerweile eher ärgerlich, wenn Bücher, die mit gesellschaftstheoretischen Theorien und Konzepten arbeiten nicht entsprechend fachwissenschaftlich lektoriert werden. So hätte ich mir auch hier ein sozialwissenschaftlich geschultes Lektorat gewünscht bzw. gehe ich auf Grundlage des Textes nicht davon aus, dass dieses erfolgt ist. Es geht mir dabei nicht um eine Verwissenschaftlichung, sondern dass dort wo bestimmte Theorien und Begriffe verwendet werden, dies auch korrekt getan wird. Das Gefühl von Armut von Celsy Dehnert ist ein wichtiges Buch, das keinen Tag zu früh kommt! Zwar zeigen sich für mich leichte Schwächen in der Umsetzung, die jedoch der zentralen Botschaft und den klugen Gedanken der Autorin nicht ihre Wirkkraft und Legitimität nehmen! Ich würde mir viele Leser:innen für dieses Buch wünschen, die nicht von Armut betroffenen sind und hoffe für uns alle, dass aus der Lektüre nicht nur Betroffenheit und Empathie, sondern auch Handlungsbewusstsein entsteht! Wie dieses aussehen kann? - auch dazu liefert Celsy Dehnert einige wichtige Anregungen!