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Besprechung vom 06.05.2025
Etwas mehr Skandale hätten gutgetan
Der Kirchenhistoriker Jörg Ernesti beschreibt die Eigenheiten des kleinsten Staates der Welt
Die gut 130 Kardinäle wählen von Mittwoch an in der Sixtinischen Kapelle nicht nur ein neues Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. Sie bestimmen damit zugleich das künftige Oberhaupt des kuriosesten Staatswesens der Welt: der letzten absoluten Monarchie in Europa mit einem 62 Fußballfelder großen Territorium und 764 Staatsbürgern auf Zeit (Stand 2023), die von einer Armee aus 135 Schweizern beschützt werden. Dabei hat der Staat der Vatikanstadt, wie sein offizieller Name lautet, nur die Funktion eines Schutzraumes: Er soll gewährleisten, dass die Zentrale der katholischen Weltkirche unabhängig bleibt und frei agieren kann. Dieses Staatsziel der besonderen Art ist in den Lateranverträgen zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl von 1929 festgeschrieben, der Geburtsurkunde des heutigen Vatikans.
Was wäre, wenn die Sixtinische Kapelle zu Italien gehörte? Könnte ein Kardinal dann vor einem italienischen Gericht wegen einer Verletzung seiner Grundrechte klagen, weil er komplett von der Außenwelt abgeschirmt wird? Könnte die Regierung in Rom die Kardinäle unter Druck setzen? Die Lektüre des Vatikan-Buches von Jörg Ernesti regt zu solchen Spekulationen an. Das Werk des Augsburger Kirchenhistorikers, das in der Beck`schen Reihe die Nachfolge des vor zwanzig Jahren erschienenen Vatikan-Buches des italienischen Journalisten Fabrizio Rossi antritt, legt den Akzent stärker auf die politischen und diplomatischen Aspekte des kleinsten Staates der Welt. Am Anfang steht auch hier die überreiche Geschichte:
Der heutige Vatikan ist nur der symbolische Rest des einstigen Kirchenstaates, der 1870 unterging, als die Truppen des Königreichs Italien Rom eroberten. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das päpstliche Territorium annähernd die Größe der Niederlande. Sein Kern war ursprünglich ein Geschenk: Mitte des achten Jahrhunderts überließ der fränkische König Pippin III. Papst Stephan II. die größten Teile der Regionen Latium, Umbrien und der Marken, Karl der Große fügte später weitere Gebiete hinzu.
Ernesti bietet einen kompakten Überblick über die Entwicklung des päpstlichen Staates. Je näher er dabei allerdings der Gegenwart kommt, umso mehr schwenkt er auf den Pfad der offiziösen vatikanischen Geschichtsschreibung ein. Über Papst Pius XII. (1939 bis 1958) und den italienischen Faschismus schreibt er etwa, das Verhältnis sei "bis Kriegsende angespannt" geblieben. Das ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lautet, dass Pius XII. alle grundsätzlichen kirchlichen Proteste gegen das faschistische Regime unterband. Jedes Buch über den Vatikan steht vor der Herausforderung, die verwirrenden Begrifflichkeiten möglichst einfach zu erklären: Worin liegt der Unterschied zwischen dem Vatikan, dem Staat der Vatikanstadt und dem Heiligen Stuhl? Es hätte die Lektüre erleichtert, wenn Ernesti gleich zu Beginn seines Buches in diesem Punkt Klarheit geschaffen hätte.
Als geistlich-weltlicher Zwitter mit der Einwohnerzahl eines Dorfes ist der Vatikan auch ein Kuriositätenkabinett, von der Tankstelle über die drei Haftzellen und die Schweizergarde, bis hin zu einer Staatsbürgerschaft, die spätestens mit dem Ruhestand erlischt. Was dem Buch hier fehlt, ist die Liebe zum Detail - und das ist bei einem Werk über den Vatikan keine Nebensächlichkeit.
Was kostet das Benzin an der vatikanischen Tankstelle? Wer saß schon im Schatten des Petersdoms in Haft? Was verdient ein Kardinal, der eine Behörde leitet? Dem Kirchenhistoriker mögen solche Details belanglos erscheinen, viele Leser hätte es vermutlich interessiert. Und in vielen Vatikan-Büchern spielen die Skandale eine unangemessen große Rolle, aber in diesem Buch kommen sie doch etwas zu kurz. Bisweilen ist Ernesti zudem nicht auf dem neuesten Stand: Dass die meisten amtlichen Dokumente des Vatikans aus der lateinischen Ursprungsfassung in die großen Weltsprachen übersetzt werden, wie er schreibt, trifft zum Beispiel schon seit Jahren nicht mehr zu. Die wichtigen vatikanischen Schreiben werden in der Regel zuerst auf Italienisch verfasst, die lateinische Version ist nur noch die Referenzfassung.
Diese Mängel vermag auch das letzte Kapitel des Buches nicht aufzuwiegen, in dem Ernesti überaus vorsichtig allseits bekannte strukturelle Defizite des Vatikans benennt: die "Klerokratie", die Herrschaft der Geistlichkeit (Warum muss ein Kardinal die vatikanische Zentralbank leiten?) und den geringen Frauenanteil unter den Beschäftigten des Vatikans. Der habe sich unter Franziskus aber "immerhin" von 19,2 auf 23,4 Prozent erhöht, findet Ernesti. Umso mehr erscheint das handliche Format des Buches als Vorzug. So lässt es Rom-Reisenden genug Platz für ein zweites Buch über den Vatikan. THOMAS JANSEN
Jörg Ernesti: "Der Vatikan". Geschichte, Verfassung, Politik.
C.H. Beck Verlag, München 2025. 128 S.
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