
Besprechung vom 18.10.2025
Aus dem Nabel Bourbon trinken
Lyrik wie nie - oder wie bislang erst einmal vor fünfundfünfzig Jahren: Ulf Stolterfohts Gedichtband "Rückkehr von Krähe".
Was für ein Tausendsassa - dieser Krähe! Mehr als 150 Buchpublikationen hat er von seinem Debüt im Jahr 1963 an verfasst. (Unser Liebling ist und bleibt Krähes einfühlsame Anschmiegung an einen seiner popdiskursiven Zeitgenossen: "variationen über eine geheime akkord- // folge von thomas meinecke".) Kaum weniger Hörspiele und Rundfunkbeiträge umfasst Krähes OEuvre. Die beiden jüngsten Produktionen, noch sieben Jahre nach seiner letzten Buchpublikation: "fischlokal bofinger. hörstück in gerechter sprache (2023)". Und als fachsprachlicher Schlussstein und selbstironische Restwertvermessung: "schwacke" aus dem Jahr 2024. Dann kommt noch die zeitlich leicht versetzt einsetzende, über die Siebziger- und Achtzigerjahre andauernde Karriere als Zeichner hinzu. In drei ausufernde Mappen lassen sich die Arbeiten gruppieren. Und von der Musik, ja von der Musik haben wir noch gar nicht geredet, obwohl es sich im Leben des Krähe doch so viel um sie dreht. Um ein kardinales Stück zu nennen: "die macht der drüse 2. original soundtrack (lp 1982)". Unbestreitbar! Krähe gehört zu den Großen.
Wie gut, dass nun endlich Ulf Stolterfoht in "Rückkehr von Krähe" mit buchhalterischer Akribie ein Werkverzeichnis erarbeitet hat. Um zugleich ein unvergessliches Porträt dieses Dichters zu entwerfen, Krähes Theorielandschaften abzuschreiten, sein Wunderwirken nach dem Evangelienbuch "krähe nach lukas" zu rekonstruieren und sich schließlich selbst auf die Spurensuche nach Krähe zu begeben. In der Hoffnung darauf, selbst so ein Krähe werden zu können.
Der eigentliche Held dieser abenteuerlichen "Rückkehr von Krähe" ist der erfindungsselige Dichter Ulf Stolterfoht selbst. Oder unseretwegen auch sein Erzähler, der in vierzehn gleich langen Kapiteln, die aus jeweils neun Gedichten, mit jeweils exakt fünf Strophen und somit insgesamt 3150 Versen ein Monument poetischer Weltordnung errichtet hat, um diese Ordnung umgehend, wenn nicht zu verwüsten, dann doch gnadenlos verwildern, auswuchern, verzetteln und verzotteln zu lassen. Und zwar in einem Stil, bei dem sich Comic und Satire auf verschwörerische Weise zuzuzwinkern scheinen, wenn es etwa von der Hauptfigur "Krähe" heißt: "krähes erscheinung ist eindrucksvoll. allerdings misst sein penis / viele meter, so dass er ihn einrollen und in einem kasten auf dem / rücken tragen muss. Aus krähes nabel lässt sich prima bourbon trinken, sein bartwuchs aber ist bis zuletzt nur schwach entwickelt." Ein Babyface, mit ordentlich was auf dem Kasten.
Im Angesicht dieser Erscheinung gilt es wohl, eine weitere ambivalente Leseanweisung zu beherzigen: "das stellen sie sich bitte lebhaft vor! / auf bilder möchten wir verzichten, wer also schnall hat, hält sich in solchen / gefilden gar nicht erst auf". Aber wer hat schon Schnall, selbst wenn man schnallt, wie rasant hier genau die Bilder entworfen werden, die angeblich nicht vor Augen erscheinen sollen. Und umgekehrt: Wer sollte es sich bei aller Vorsicht vor Lektüregefahren tatsächlich entgehen lassen wollen, einen Gedichtband zu durchstreifen, der seine Textlandschaft vor Witz und Fülle ("copia" nannte man das in der Rhetorik einst) überbersten und im unablässigen Ideenwirbel immer neue Figuren aufleben lässt: "winke winke, ihr vollpfosten und halbhorste! austernköpfer gegen krapfen- / schröpfer - da erhob sich ein röhren wie von getier: eulen, geier, fleder- / mäuse, krähenkinder, schatten von schatten von schatten, flatternd in der nebelverhangenen luft."
Apropos: Nachrichten aus dem Schattenreich: Im Oktober 1970, vor genau 55 Jahren, erschien Ted Hughes epochemachender Gedichtband "Crow: from the Life and Songs of the Crow". Aus Sicht seines Autors: nichts weniger als das eigene Meisterwerk. Und doch erschien der Band zugleich als das Signum des Scheiterns. Denn Hughes sah sich nicht in der Lage, sein eigentlich viel größer angelegtes Schreibprojekt zu beenden. Sein Band enthielt eben nur eine Auswahl der Gedichte, welche der Autor im Sinn hatte. Sodass "Crow" über die Jahre und Ausgaben hinweg dann tatsächlich auch seine Gestalt veränderte - fast als wäre er ein solcher Trickster wie seine Hauptfigur selbst. Konnte Krähe seine endgültige Form bei Ted Hughes also nie finden, so tritt er jetzt bei Ulf Stolterfoht eben in Höchstform auf.
Mit "Rückkehr von Krähe" ist dem in Berlin lebenden Autor gelungen, was Hughes versagt blieb: eine epische Volkssaga zu dichten, eine Verserzählung von atemberaubendem Ausmaß, gargantuesker Überdrehung und überbordender Kombinationslust. Was für ein Werk! Was für eine außer Rand und Band geratenes, poetisches Schlaraffenland, bei dem einem die reifen Ideen von den porphyrischen Bäumen direkt in den Mund zu fallen scheinen. Denn wie heißt es bei Stolterfoht aus der Perspektive einer sprechenden Fledermaus so schön: "zwei ideen sprechen für fleiß, drei sind meistens eine zu viel. hast du jedoch fünf, dann winkt von fern der huchel-preis."
Wobei dieser Preis Stolterfoht höchstens hinterherwinken könnte, denn er hat ihn schon 2008 für seinen Vorgängerband "holzrauch über heslach" erhalten. Daher macht's auch nichts, wenn "Rückkehr von Krähe" den Fünf-Ideen-pro-Gedicht-Schnitt lässig überbietet und seine Leserinnen zeitweise gezielt in ein Ideenvertigo versetzt. (Was der Text seinerseits bereits reflektiert, indem er im Kapitel "meta-krähe" einige Leserreaktion dieser Art auflistet.) Jeder Lektüremoment stellt einen situativ vor die Entscheidung: der angedeuteten Verwandtschaft folgen, Beziehungen aufnehmen, Spuren wittern oder doch geradeaus - Wort für Wort - weiter im Text? Und richtig entscheidet man sich wohl nur, wenn man irgendwie beides zugleich im Sinn behält.
Wer einer Genealogie dieser Schreibweisen folgen will, darf bei Erasmus von Rotterdams "De copia" einsteigen, sanft zur Graciáns Konzept von Scharfsinn übergehen, um sich von Rabelais "Gargantua" und Fischarts "Geschichtsklitterungen" aus wahlweise in Jean Pauls Romanwelten, Lichtenbergs "Sudelbüchern" oder in Borges Erzähllabyrinthen zu verlaufen. Da sich nicht zuletzt durch die sogenannte Digitalisierung der Eindruck verfestigt hat, wir könnten womöglich in einer Zeit der Überfülle leben, sei zuletzt betont: "Rückkehr von Krähe" hat streng rhizomatisch und sicher die Signatur unserer Gegenwart im Blick. Vergnügliche Vorsicht also bitte bei der Lektüre. Lesen Sie streng nach der Maßgabe, die Ihnen der Titel von Krähes letzter Publikation vorgibt: "bitte verlassen sie diesen text, wie sie ihn vorzufinden wünschen." Danke! CHRISTIAN METZ
Ulf Stolterfoht:
"Rückkehr von Krähe".
Abenteuergedicht.
Kookbooks, Berlin 2025. 160 S., geb., 26,- Euro.
(erscheint Anfang November)
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